Ukraine und Dorsten (I)

Wie Bürgermeister Tobias Stockhoff die Stadt auf Krisen vorbereiten will

Bürgermeister Tobias Stockhoff bei seiner Rede auf der Bühne vor dem Ausschuss; Foto: DZ

Kommentierende Betrachtung von Wolf Stegemann. – Angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine machte sich Dorstens Bürgermeister Stockhoff am 7. März 2022 in einer Sondersitzung des Haupt- und Finanzausschusses 23 Minuten lang laute Gedanken, wie Dorsten geschützt werden könne und krisenfester zu machen sei. Dabei stand er auf der Bühne vor einem Vorhang in den Landesfarben der Ukraine – und symbolisch in den Fußstapfen eines seiner Vorgänger, Wessel Ther Wieschen, der 1588 gegen den protestantischen Truchsessischen Heerführer Graf von Oberstein das katholische Dorsten auf den Stadtmauern verteidigen ließ, was damals den Männern vorbehalten war, die sich allerdings als unfähig erwiesen, so dass Dorstener Frauen auf die Stadtmauern steigen mussten und die Stadt erfolgreich verteidigten. Der Marktbrunnen gibt darüber bildlich Auskunft. Abgesehen davon, dass Dorsten keine Stadtmauern mehr hat, reagierte Bürgermeister Stockhoff rund 500 Jahre später im symbolischen Sinne ähnlich. Er befürwortete die Beibehaltung der Munitionsanstalt Muna und sagte: „Wir müssen auch als Stadt Dorsten einen Grundbestand an Schutzausstattung vorhalten, um gut und schnell reagieren zu können.“ Reagieren? Nicht mit städtischen Kriegsknechten, wie sein Vorgänger vor 500 Jahren, sondern (kriegsbedingt) bei Stromausfall, Cyber-Attacken, vielleicht sogar einer bewaffneten Auseinandersetzung auf deutschem Boden – für Stockhoff ist unter dem Eindruck des Ukraine-Krieges derzeit offenbar nichts ausgeschlossen, manches sogar wahrscheinlich. Er sieht in den osteuropäischen Ereignissen eine „Zeitenwende“ für alle. Deshalb sagte er als Bürgermeister mit deutlichen Worten: „Wir müssen Antworten gemeinsam entwickeln.“

Seine Vorstellungen zur Vorsorge für Krisensituationen sehen dann so aus:

Bereich Stromerzeugung: „Dass der große Blackout kommt, ist keine Frage des Ob. Es ist nur eine Frage des Wann…“
Bereich Selbsthilfe: „Es muss wieder zu einer Selbstverständlichkeit werden, dass sich eine Familie einen 2-Wochen-Notvorrat leisten kann und diesen auch anlegt.“
Bereich Krisenstrukturen: „Wir werden auch als Stadtrat der Stadtverwaltung zusätzliche Ressourcen zur Verfügung stellen müssen, wenn wir gut ausgebildete und eingespielte Krisenmanagerinnen und Krisenmanager in Extremsituationen erwarten.“
Bereich Cyber- und Datensicherheit: „Es gibt keinen 100-prozentigen Schutz gegen Kriminelle. Aber auch hier müssen wir in mehr Sicherheit und redundante Systeme investieren – sowie in regelmäßige Schulungen.“
Bereich Warn- und Kommunikationsstruktur: „Ende 2023 werden über 95 Prozent unserer Stadtbevölkerung per Sirene gut hörbar gewarnt werden können. Auch Kommunikation muss bei einem Ausfall der normalen Telekommunikationsnetze möglich sein. Aus diesem Grund werden wir zum Beispiel für unsere Feuerwehrstandorte auch Satellitentelefone beschaffen.“
Bereich Schutzausstattung: „Wir müssen auch als Stadt Dorsten einen Grundbestand an Schutzausstattung vorhalten, um gut und schnell reagieren zu können.“
Bereich Bundeswehr und Landesverteidigung: „Als Städte und Gemeinden können wir dazu beitragen, dass für die Soldatinnen und Soldaten auch zukünftig gilt: Staatsbürgerin bzw. Staatsbürger in Uniform. In Dorsten sollten wir uns beispielsweise fragen, ob der immer mal wieder, wenn auch nur sehr vereinzelt, geäußerte Wunsch nach der Schließung der Muna – also des Munitionsversorgungszentrums West – in Wirklichkeit nicht die wenig glaubwürdige Anwendung des Sankt-Florian-Prinzips ist.“

Meint er es ernst? Der Bürgermeister empfiehlt, Vorräte zu hamstern

Der irritierte Zeitgenosse darf sich schon die Frage stellen, ob die Überlegungen, die der Bürgermeister zum Besten gab (und gibt), mehr sind als heiße Luft. Was soll zum Beispiel die Bemerkung, es sei nur eine Frage der Zeit, wann es zum Strom-Blackout kommt? Diese reale Gefahr ist nicht neu und sie ist das Ergebnis der falschen Politik einer Regierung, die in den letzten Jahren von der Partei geführt wurde, der der Bürgermeister selbst angehört. Nun kommt Stockhoff daher und löst das Problem? Oder etwa die Empfehlung, die Familien mögen sich einen 2-Wochen-Lebensmittelvorrat anlegen. Aktuell raten Supermarktketten und Politiker von Hamsterkäufen ab, weil nur so die ungestörte Versorgung der Bevölkerung sichergestellt werden kann. Im Hinblick auf die Datensicherheit und Widerstandsfähigkeit gegen Cyberattacken wäre es schon wünschenswert, wenn die Stadt ihren Rückstand in der Digitalisierung aufholen würde. Und dann die Kommunikation in Krisensituationen. Dass wieder Sirenen zur Warnung der Bevölkerung installiert werden, ist das Ergebnis der Ahrtal-Flut und man fragt sich, warum das in Dorsten erst in 2023 geschehen soll. Ähnliches gilt für die Ausstattung der Feuerwehr mit Satellitentelefonen. Jedes Segelboot, das sich vom Festland entfernt, verfügt heutzutage über ein Satellitentelefon. Dass deren Anschaffung nun als Teil eines Krisenpakets erscheint, ist wie aus der Zeit gefallen.

In Abwandlung des „Landesvaters“ sieht sich Stockhoff als „Stadtvater“

Mehr als heiße Luft oder nicht – die Rede des Bürgermeisters vor dem Rat entspricht jedenfalls dem Verständnis, das Tobias Stockhoff von seiner Rolle hat. Er versteht sich als Stadtvater, der sich – wie der Familienvater um seine Kinder – um die Stadtkinder sorgt. So legte er selbst es in seiner Haushaltsrede im September 2019 dar. Er räumte zwar ein, dass die Bürger keine Kinder seien, doch die Stadt sei wie eine Großfamilie mit Tanten, Onkeln, Großeltern. Eine Familie ohne Kinder? Wie auch immer, ein Stadtvater ohne Kinder. Allgemein bekannt ist der althergebrachte historische Begriff „Landesvater“ als nicht demokratisch legitimierter Landesherr, von dem Stockhoff wohl sprachlich seinen „Stadtvater“ ableitet:

„Verstehen wir uns als Stadtmütter und Stadtväter, die wie fürsorgliche Eltern in einer Familie versuchen, den Ansprüchen und Bedürfnissen gerecht zu werden, zu vermitteln, Wissen weiterzugeben, zu ermuntern, zu ermahnen, Hilfestellungen zu geben, zuzuhören, gerecht zu sein, bei Entscheidungen an unsere Kinder und deren Nachkommen zu denken.“

Ob die Bürger ihren jugendlich erscheinenden Bürgermeister als ihren Stadtvater wollen, ist nicht überliefert. Aber das ändert nichts am Selbstverständnis des Bürgermeisters. Die angemaßte Rolle des Stadtvaters steht ja nicht allein für die Fürsorge für die Bürger, sondern begründet zugleich seinen Anspruch auf Allzuständigkeit, den Tobias Stockhoff täglich vorlebt. Die Stadt Dorsten – das ist Tobias Stockhoff. Gibt es da auch noch andere Personen? Offenbar nicht. In den Ratssitzungen redet immer nur einer: Tobias Stockhoff. Die Mitglieder des Stadtvorstandes dienen da überwiegend der Dekoration. Und wer hat seit der Kommunalwahl 2021 je etwas von den beiden gewählten ehrenamtlichen Stellvertretern des Bürgermeisters gehört? Gibt es die noch? Der Allzuständigkeitsanspruch von Tobias Stockhoff korrespondiert mit einem antiquierten Bild der Vaterrolle. Er weiß alles und er kann alles. Die Gelegenheit, sich als Krisenmanager zu inszenieren, lässt sich ein Tobias Stockhoff nicht entgehen. Dazu reicht ihm auch die Verkündung von Selbstverständlichkeiten.

Siehe auch: Ukraine und Dorsten (II)
Siehe auch: Ukraine und Dorsten (III)
Siehe auch: Ukraine und Dorsten (IV)
Siehe auch: Ukraine und Dorsten (V)


Quellen: Haushaltsrede Sept. 2019. – DZ vom 10. März 2022. – Übrigens ist die gesamte Rede des Bürgermeisters in der „Dorstener Zeitung“ vom 10. März abgedruckt, auch im Internet zu finden. 

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