Tatra-Vertretung

Revolte der bundesweiten Tatra-Besitzer bei Grewer in Holsterhausen

Tatra-Fahrzeuge; Foto: I. Bein

Tatra-Fahrzeuge; Foto: I. Bein

Von Wolf Stegemann – An der Borkener Straße bestand von 1965 bis 1997 eine Niederlassung der tschechischen Autowerke Tatra für Nutzfahrzeuge und zeitweise auch für Skoda-Personenwagen. Selbstständiger Niederlassungspartner von Tatra  war in den ersten zwei Jahren die Firma Auto Müller & Co. KG, die Konkurs anmelden musste. Daher übernahm die staatliche tschechische Außenhandelsfirma Simex  bzw. „Motokov“ 1968 die Niederlassung selbst. Bis 1976 hatte die Dorstener Niederlassung jeweils einen deutschen und einen tschechischen Leiter, danach nur noch tschechische, die häufig wechselten. Angeschlossen war dem Betrieb an der Borkener Straße Abzweig Pliesterbecker Straße eine Werkstatt. Anfangs hatte das Unternehmen dort bis zu 120 Personen beschäftigt, am Ende waren es noch 38. Im Jahr 1996 wechselte die Dorstener Niederlassung nach Engelsdorf bei Leipzig und beendete zum 1. März 1997 jeglichen Betrieb in Dorsten. Der tschechische Eigentümer wurde mit dem Discounter Lidl einig, der den Grund für den Bau eines Supermarktes übernehmen wollte. Dies gestattete die Stadt nicht, weil sie Lidl aus der Befürchtung heraus dort nicht haben wollte, dass zu viele Altstädter zum Einkaufen nach Holsterhausen fahren würden. Stattdessen genehmigte die Stadt die Ansiedlung des Fastfoot-Anbieters Burger-King, der im Jahre 2000 dort eröffnete.

Rückblende: Der Wagen hüpft auf der Straße wie ein alter Ziegenbock

Tatra-LogoDie Beschwerden über schlechte Verarbeitung der Tatra-Lastwagen häuften sich im Westen, so dass die Käufer revoltierten. Im Frühjahr 1968 kamen 150 Tatra-Besitzer aus der ganzen Bundesrepublik nach Dorsten, um in Gegenwart von Rechtsanwälten der Prager Außenhandelsfirma „Motokov“ scharfe Kritik an der unzulänglichen Qualität der Fahrzeuge zu üben und Schadenersatz zu fordern. An der Borkener Straße in Holsterhausen machten die Tatra-Besitzer ihrem Unmut Luft. Ein Berliner berichtete, dass ständig Schrauben aus dem Motor fielen, ein anderer klagte, in seinen Tatra-LKW hätten in einem Jahr vier verschiedene Motoren eingebaut werden müssen.

Vor dem Unmut der Versammelten an der Borkener Straße stammelten die CSSR-Vertreter  hilflos, immerhin sei die Export-Ausgabe des Tatra für den Westen, noch „in 200 Punkten besser“ als die Lastwagen, die in die Ostblock-Länder ausgeführt werden. Der damalige CSSR-Handelsminister und Altkommunist Ota Sik bemühte sich um Abhilfe. Von dem niederrheinischen Fuhrunternehmer Karl Bothen, damals 43 Jahre alt, aus Menzelen bei Wesel, drohte den tschechischen Wirtschaftsplanern im April 1968 Gefahr. Denn der Weseler wollte von den Tschechen 25 Millionen Mark Entschädigung für die westdeutschen Besitzer von 230 defekten Tatra-Lastwagen erstreiten, hingegen hatten die Automobile der Prager Außenhandelsfirma „Motokov“ nur rund 15 Millionen Mark eingebracht.

Bei Grewer mit Bier und Schnaps Rede und Antwort gestanden

Inserat 1961

Tatra-Inserat 1961

Im Hotel Grewer in Deuten erläuterten daraufhin sechs tschechische Funktionäre bei Pils und Steinhäger das Debakel ihres LKW-Exports. Sie saßen sieben Stunden lang 150 deutschen Tatra-Fuhrleuten gegenüber, die Karl Bothen als „Interessengemeinschaft aller zusammengetrommelt hatte, die sich mit dem Erwerb des Tatra-Fahrzeugs übervorteilt und geschädigt fühlen“.

„Unsere Fahrzeuge sind“, so Bothen, „zu 50 bis 60 Prozent durch Schäden ausgefallen.“ Ein Leidensgenosse berichtete bei Grewer: „Der Wagen hüpft auf der Straße wie ein alter Ziegenbock.“ Die Tatra-LKW zeigten, wie der Rechtsvertreter der Geschädigten zusammenfasste, „gravierende Mängel des Materials und der Verarbeitung“. Der Oberhausener Transportunternehmer Ernst Becker, mit 26 Wagen bester Tatra-Kunde, monierte anfangs den überhöhten Ölverbrauch, die zu kleinen Reifen, die schlechte Lenkung und Defekte an Einzelteilen. In mehreren Fällen weigerten sich Technische Überwachungs-Vereine, den Tatras Betriebssicherheit zu bescheinigen.

Dorstener Handelsniederlassung Müller ging in den Konkurs

Die Tschechen hatten ihre Lastwagen als besonders wendig im Baustellenverkehr und besonders billig empfohlen: Er kostete 66.450 Mark, etwa zehn Prozent weniger als deutsche Modelle ähnlichen Typs. Aber was die Tatra-Werke lieferten, hielt deutschen Ansprüchen nicht stand.

Den Vertrieb hatten die Prager Exporteure dem Gebrauchtwagenhändler Franz Müller in Dorsten übertragen, und auch mit ihm bekamen sie Arger. Nicht nur stellte er einen ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS, der im Kriege in Prag gewirkt hatte, als Betriebsleiter ein. Müller geriet auch mit über zehn Millionen Mark in Zahlungsverzug und 1967 in Konkurs. Danach konnten die Tatra-Käufer ihren beträchtlichen Bedarf an Ersatzteilen nur noch gegen bar beim Konkursverwalter decken. Oben auf der Schuldnerliste stand Karl Bothen mit 500.000 Mark, aber zwei Millionen hat er bereits in eine Truppe von Mechanikern, die ständig im Einsatz war, sowie in Ersatzteile und Ausfallzeiten gesteckt. Angesichts solcher Beschwerden zeigten sich die Tschechen bei der Protestversammlung in Deuten zu Ersatzleistungen bereit.

Die westdeutsche Hauptvertretung wurde nach dem Konkurs Müllers in Dorsten nach Furth im Wald verlegt, die auch Skoda-PKW in der Bundesrepublik vertrieb. In Dorsten blieb dennoch die Niederlassung. Auf dem Kulanzwege sollten die Tatra-Besitzer entschädigt werden. Doch daraus wurde nicht viel. Die Tatra-Werber verkündeten bereits kurze Zeit danach: „Tatra und seine Erfolge […] sind ebenso historisch wie legendär.“

Zur Geschichte des Tatra-Werks

Die Ursprünge des tschechischen Automobilwerks TATRA gehen auf das Jahr 1898 zurück.  Damals gehörte das heutige Tschechien als Böhmen noch zu Österreich. Im böhmischen Nesseldorf wurde die „Nesseldorfer Wagenbau-Gesellschaft“ gegründet, die Lastwagen herstellte. Als nach dem Ersten Weltkrieg der tschechische Staat entstanden war, lief die Produktion Mitte der 1920er-Jahre in Nesseldorf, das jetzt Koprivnice hieß, nunmehr unter dem Markennamen TATRA mit einem völlig neu entwickelten Produktionsprogramm für leichte und auch schwere LKW wieder an. In den 1960er Jahren gab es eine Palette von 75 LKW-Modellen, darunter schwere Laster bis zu 85 Tonnen. Das Werk expandierte unter dem Handelsnamen „Simex“ im Zuge der Wirtschafts-Liberalisierung auch in den Westen, wobei schwere LKW und Kran-Chassis vor allem von Dorsten aus vertrieben wurden.


Quellen:
„Tschechoslowakei / Wirtschaftsliberalisierung“ in SPIEGEL 16/1968 vom 29. April 1968. – Mündliche Auskunft Frau Elschenbroich, Schermbeck.

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