Stress – im Berufsleben

Beschäftigte sind oft gestresst, weil sie hohe Ansprüche an sich selbst stellen

Stress kennt wohl jeder: sei es in der Familie, beim Autofahren, bei der Erledigung von Anliegen und vor allem auch im Beruf. Der Stress gehört eben zum Leben, wie vieles andere auch. Umfragen zufolge sind Beschäftigte im Beruf häufig gestresst, weil sie hohe Ansprüche an sich selbst stellen. Das hat aber nicht nur mit ihnen selbst zu tun – es gibt auch strukturelle Ursachen. Eine Umfrage der Kaufmännischen Krankenkasse Hannover (KKH) irritiert Fachleute: Der KKH-Erhebung zufolge sind weniger die Anforderungen von Chefinnen und Chefs für Stress im Berufsleben verantwortlich. Stattdessen seien hohe Ansprüche, die Beschäftigte an sich selbst stellen, der häufigste Stresstreiber, erklärte die KKH.

Die Beschäftigten steckten in einer „Perfektionismus-Falle“

Die Erhebung der KKH zeigt, dass immer mehr Beschäftigte in Deutschland unter stressbedingten Erkrankungen, etwa dem Burn-out, leiden. Der Befund allein ist nicht neu, die Krankasse aber hat auch nach den Gründen geforscht. Hoher Zeitdruck (62 Prozent), hohe Erwartungen der Vorgesetzten (40 Prozent) und Überstunden (32 Prozent) treiben der Untersuchung zufolge den Stresspegel hoch. Als größten Stresstreiber aber identifizierte die Krankenkasse die Beschäftigten selbst: 65 Prozent der Befragten ringen demnach mit ihren eigenen Ansprüchen an sich und ihre Arbeitsleistung. Stressen sich Beschäftigte also vor allem selbst? Womöglich sogar unnötigerweise? Experten warnen vor zu einfachen Deutungen. Dass viele Beschäftigte mitunter an Belastungsgrenzen gehen, ist kein Geheimnis – auch nicht für Fachleute, die sich regelmäßig in Betrieben umhören. „Die hohe Belastung wird als persönliches Problem verhandelt, weil die Rahmenbedingungen unverhandelbar sind“, sagt die Göttinger Arbeitssoziologin Nicole Mayer-Abuja.

Unternehmen geben oft Ziele vor statt Handlungen

Ein zentrale Rolle spielt ihr zufolge die sogenannte zielgesteuerte Führung: Etwa seit den 1980er-Jahren verlieren konkrete Handlungsanweisungen in den Betrieben an Bedeutung. Heute geben Unternehmen stattdessen oft Ziele vor, etwa einen bestimmten Umsatz, den Einzelne oder Abteilungen knacken sollen. „Auf den ersten Blick ist das ein attraktives Angebot: Man kann die Arbeitsschritte selber planen, die Zeit flexibel einteilen und auch von zu Hause ausarbeiten“, sagt Mayer-Abuja. Der Gewinn an Autonomie wird indes zum Problem, wenn nicht genügend Zeit, Personal oder Arbeitsmittel zur Verfügung gestellt werden. Beschäftigte hätten dann das Gefühl, trotz fehlender Ressourcen für die Erfüllung ihrer Aufgaben verantwortlich zu sein, fasst Mayer-Abuja Studien zur Arbeit in Fabriken, Büros und anderen Einrichtungen zusammen. „Und wenn dabei Stress entsteht, haben Beschäftigte den Eindruck, es liegt an ihnen selbst“, sagt die Professorin. „Insbesondere bei Projektarbeit sind die von den Unternehmen gemachten Zeitvorgaben häufig unrealistisch“, hat die Wuppertaler Arbeitspsychologin Silke Surma ebenfalls beobachtet. Schlussendlich würden Beschäftigte dann Managementfehler durch Mehrarbeit kompensieren. „Selbst wenn die Arbeit Spaß oder stolz macht, können solche Arbeitssituationen langfristig zu psychischen Erschöpfungszuständen führen, da Erholungszeiten nicht eingehalten werden oder die Mitarbeitenden mental nicht mehr abschalten können“, sagt Surma.
Und dann gibt es auch noch Fälle, in denen Beschäftigte zwar klare Vorgaben zur Bewältigung ihrer Arbeit haben, deren Befolgen aber ihren persönlichen Wertvorstellungen widersprechen würde. Pflegekräfte etwa litten besonders häufig darunter, dass sie unter den gegebenen Bedingungen nicht so pflegen können, wie sie es für geboten halten, sagt die Göttinger Arbeitssoziologin Nicole Mayer-Abuja.

Individuelle Ursachen in den Blick nehmen

Aus Sicht der Forscherinnen ist deshalb klar, dass der Kampf gegen Stress sowohl strukturelle als auch individuelle Ursachen in den Blick nehmen muss. „Verallgemeinerungen und Schuldzuweisungen zwischen der Unternehmens- und Mitarbeitenden-Ebene sind nicht hilfreich“, sagt die Wuppertaler Professorin Silke Surma, die auch Unternehmen berät. Gut gestaltete Arbeitsbedingungen und Organisationsprozesse seien für alle Beteiligten ein Gewinn. Mitarbeitende würden weniger gestresst, „und die Arbeit ist motivierender, was sich wiederum positiv auf die Produktivität und Qualität der Arbeit auswirkt“. – Neu sei das alles nicht, erklärt Surma. Die Arbeitspsychologie wisse seit 50 Jahren um die Vielschichtigkeit des Kampfes gegen Stress, in den Personalabteilungen großer Unternehmen seien die Erkenntnisse auch teilweise angekommen. Anders sehe es bei kleinen und mittleren Unternehmen aus.


Quelle: Christoph Höland in RN (DZ) vom 10. September 2024

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