Schultüte

Ein zuerst evangelischer Brauch, der sich landesweit durchgesetzt hat

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Von Wolf Stegemann – Rund 600 i-Männchen werden in Dorsten jedes Jahr eingeschult. Für sie beginnt der legendäre „Ernst des Lebens“. Um diesen Lebenseinschnitt zu versüßen, haben die meisten eine Schultüte in der Hand, gefüllt mit tollen Sachen. Was hat es mit diesen Tüten, von denen manche halb so groß sind wie die Kinder selbst, auf sich? Eine eindeutiges Datum und einen genauen Ort für die Entstehung der Schultüte gibt es nicht. Bekannt ist aber, dass der Brauch, dem Kind mit einer „Zuckertüte“ den Schulanfang zu versüßen, vornehmlich in evangelischen Gebieten praktiziert wurde. Katholiken kannten diesen Brauch anfangs nicht. So war er auch für lange Zeit im katholischen Dorsten und in den katholischen Dörfern der Herrlichkeit nicht weit verbreitet. Um 1810 wurde in Sachsen verkündet, dass „kleinen Menschen der erste Abschied vom Elternhaus mit einer ,Zuggodühde’ versüßt wurde“. Sieben Jahre später steht in einem „Intelligenzblatt“, dass „1817 ein Schüler in Jena eine mächtige Tüte Konfekt zur Einschulung“ erhalten habe.

Erstes Zuckertüten-Buch 1852 erschienen

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1933, Landesbildstelle Berlin

1852 – also 35 Jahre später – erschien in Dresden das Bilderbuch „Zuckertütenbuch für alle Kinder, die zum ersten Mal in die Schule gehen“. Empfohlen wurde dieses Buch sogar von der „Allgemeinen deutschen Lehrerzeitung“. Ähnlich, aber noch einmal 70 Jahre später (1920), wurde „Der Zuckertütenbaum“ von A. Sixtus veröffentlicht. Um 1910 begann schließlich die industrielle Fertigung der Schultüte. Erster Fabrikant war vermutlich Carl August Nestler im erzgebirgischen Ort Wiesa. Dieses Unternehmen ist heute in Deutschlands der größte Hersteller von Schultüten in allen Farben, Materialien und Größen. Langsam bewegte sich die Schultüte vom evangelischen Norden Deutschlands in den katholischen Süden. Während des Nationalsozialismus verschwand die Schultüte nicht. Die Anhänger des NS- Regimes versuchten allerdings, die individuellen Schultüten durch eine „Einheitstüte“ zu ersetzen. Auf solchen war mitunter auch das Hakenkreuz zu sehen. Dieser Versuch war jedoch relativ erfolglos.

Agnes Hürland-Büning hatte in Holsterhausen keine Schultüte

„Schultüte? Nein, wir hatten keine! Auf dem katholischen Land waren Zuckertüten nicht üblich!“, meinte Maria Nienhaus aus Rhade, auf die Frage, was sie denn in ihrer Schultüte 1962 hatte. Auch ihre Kinder, die Anfang der 1980er-Jahre in die Schule kamen, hatten keine Tüten. Die 2009 verstorbene ehemalige Staatssekretärin Agnes Hürland-Büning, die 1932 eingeschult wurde, schreibt in ihren bislang unveröffentlichten Memoiren:

„Mutter begleitete mich am ersten Schultag zu Schule. Unsere Klassenlehrerein war Änne Schmeken, genannt Fräulein Schmeken. Am ersten Schultag hatten einige Kinder eine Zuckertüte. Ich nicht. Dafür hatten wir kein Geld. Es waren nicht viele Kinder, die eine Zuckertüte hatten…“

Die Schultüte bei Sombergs gibt es nun in dritter Generation

Petra Sommberg 1959 und ihr Sohn Uwe 1977

Petra Sommberg 1959 und ihr Sohn Uwe 1977

Petra Somberg-Romanski, Ratsfrau im Dorstener Stadtrat, erinnert sich an ihren ersten Schultag 1959 in Gelsenkirchen: „Meine Mutter brachte mich zur Paul-Gerhardt-Schule, wo wir in die Klassen verteilt wurden und eine halbe Stunde lang das „i“ lernten. Danach durften wir nach draußen gehen, wo uns unsere Mütter erwarteten und uns unsere Schultüten gaben. In meiner waren Schokolade und andere Süßigkeiten sowie Obst, aber keine Spielsachen. Mit der Schultüte wurden wir dann auf dem Schulhof fotografiert.“ Der Brauch der Schultüte wurde in der Familie Somberg fortgesetzt. Sohn Uwe, der 1977 in Datteln eingeschult wurde, hatte neben Süßigkeiten schon Spielsachen in der bunten Tüte. Die Eltern saßen in der ersten Stunde der Einschulung mit im Klassenzimmer. Die Kinder hatten ihre Schultüten am Platz. Und während der Lehrer sprach und die Kinder aufmerksam zuhörten, machte sich der kleine Uwe bereits schmatzend über den Inhalt seiner Schultüte her.

Issam Attris, 2014; Foto: Petra Somberg

Issam Attris, 2014; Foto: Petra Somberg

Anschließen wurde zum Fotografen gefahren. Als Uwe Somberg groß war und er, seine Frau und die Dorstener Oma Petra Somberg 2010 den Nachwuchs Frederick in Nürnberg zur Einschulung begleiteten, waren in der Schultüte keine Süßigkeiten mehr, sondern Computer-Spiele wie „Star War’s“. Und im Schulhof gab es einen Imbiss, einen richtigen kleinen Event für abc-Dötze und ihren Eltern. So ändern sich die Zeiten und der Inhalt der Schultüten. – Issam, Sohn der Dorstenerin Fatma Attris, wurde 2014 in der Lehmbruck-Schule in Östrich eingeschult. Natürlich mit Schultüte.

Brauch von der DDR auf die Seychellen mitgenommen

In der DDR bekamen die Schulanfänger oftmals sogar zwei Tüten: Die Holsterhausenerin Edith Chumalke erinnert sich an ihre Einschulung 1973 in Karl Marx Stadt (heute wieder Chemnitz), dass sie bei einem „Zuckertütenfest“ im Kindergarten nach der Aufführung der Geschichte des Zuckertütenbaums eine erste kleine Schultüte erhalten hatte und am ersten Schultag noch einmal eine große, von den Eltern gefüllte Zuckertüte. Sie erinnert sich ebenfalls an ein großes Fest am ersten Schultag. Margit Camille-Reichardt, die in Moritzburg (bei Dresden) eingeschult wurde, erinnert sich nur noch schwach an ihre „sozialistische“ Schultüte (1970), bunt und mit Süßigkeiten sowie Bleistiften und Radiergummi gefüllt. „Manche hatten eine sechseckige Tüte, die war viel schicker als die runden.“ Diese eckigen Tüten gab es damals nur in der DDR. Als sie dann in der Wendezeit auf die Seychellen zog, bekam auch ihre dort geborene Tochter Mona nach deutschem Brauch eine Schultüte, die sie sich von ihrer Familie aus Deutschland schicken ließ. Allerdings erst ein Jahr nach der Einschulung, aber mit Foto unter Palmen.


Quellen/Literatur:
Agnes Hürland-Büning unveröffentlichte Memoiren. – Erich Kästner: „Als ich ein kleiner Junge war“, Dressler Verlag Hamburg 2011. – Albert Sixtus: „Der Zuckertütenbaum“, Verlag von Hegel und Schade, Leipzig 1928. – Hans-Günter Löwe: „Schulanfang. Ein Beitrag zur Geschichte der Schultüte“, Edition Freiberg, Dresden 2014. – Ingeborg Weber-Kellermann: „Saure Wochen, Frohe Feste“, C. J. Bucher Verlag München und Luzern 1985. – Helga Maria Wolf: „Das neue Brauchbuch“, Österreichischer Kunst- und Kulturverlag Wien 2000. – Volker Wieprecht / Robert Skruppin: „Das Lexikon der Rituale“, Rowolth-Berlin 2010.

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