41 Freiwillige aus Holsterhausen und Hervest bildeten die „Trotzki“-Kompanie
Wolf Stegemann. – Die Nachricht vom Kapp-Putsch erreichte Dorsten sowie die Bergarbeitergemeinden noch am 13. März 1920 gegen Mittag. Mächtige Arbeiterkolonnen marschierten mit dem Lied, „Dem Karl Liebknecht haben wir’s geschworen, der Rosa Luxemburg reichen wir die Hand“ zuerst zum Amtshaus nach Wulfen, danach zum Polizeikommissariat nach Holsterhausen. Sie besetzten die Gebäude und unterstellten die Verwaltungen ihrer Kontrolle. Acht Tage später zogen die ersten Angehörigen der Roten Ruhrarmee in Dorsten ein, nachdem zwei Tage vorher die in Dorsten stationierte Reichswehrtruppe abgerückt war. In den folgenden Tagen kamen weitere Einheiten der Roten Armee nach Dorsten, die im Hotel „Zum Schwarzen Adler“ ihr Hauptquartier aufschlugen. Fortan war das Zeigen der Schwarz-weiß-roten Fahne und Verkauf von Alkohol verboten und es wurde eine Ausgangssperre verhängt. Die meisten Truppenteile zogen mit vollgepackten Autos und Geschützen von Dorsten über die Lippebrücke durch Holsterhausen nach Wesel weiter. 41 Freiwillige aus Holsterhausen und Hervest schlossen sich als Soldaten der Roten Ruhrarmee an. Sie bildeten mit anderen die „Trotzki“-Kompanie.
Karrusseit übernahm das Kommando auch in den Bergbaugemeinden
In Dorsten und in den beiden Bergarbeitergemeinden Holsterhausen und Hervest übernahm der Gelsenkirchener Kommunist Gottfried Karrusseit den Posten des Stadtkommandanten und war somit auch als Abschnittskommandeur West der Roten Armee Alleinherrscher. Das Auftreten der Kommunisten wurde frecher, Plünderungen, gewaltsames Eindringen in Wohnungen und ungerechtfertigte Beschlagnahmungen waren an der Tagesordnung. Die Disziplinlosigkeit unter der Roten Armee nahm zu. Kolonnen von Fahrzeugen und Trupps von Rotarmisten zogen durch Holsterhausen, wenn sie in das Kampfgebiet nach Wesel geschickt wurden. Immer häufiger kamen von dort Verwundetentransporte zurück und abgekämpfte Rotarmisten flohen durch Holsterhausen vor dem Freikorps Loewenfeld, das von Wesel her anrückte. Erfolglos drohte die nervös gewordene Kampfleitung den bewaffneten Arbeitern, die nach Hause strömten, mit standrechtlichen Erschießungen. Ob aber solche auch durchgeführt wurden, ist nicht belegt. Die Rote Armee hatte keine Erfolge mehr zu verzeichnen. Die Erfolge der Freikorps wirkten sich demoralisierend auf die „roten“ Kämpfer aus. Ein Offizier der Roten Armee nahm sich am 28. März in Dorsten das Leben, was von Historikern als ein einmaliger Vorgang in der Geschichte des Ruhrkampfes gewertet wird.
Zwei Reichswehrsoldaten in Holsterhausen zum Tode verurteilt
Eine Ereignis ist noch erwähnenswert, für das der Kommunistenführer Karrusseit schließlich später ins Gefängnis gesteckt wurde: Er ließ zwei Reichswehrsoldaten aus Holsterhausen bzw. Hervest zum Tode verurteilen, und einen davon in den Holsterhausener Lippeauen von Maria Lindenhof hinrichten. Die beiden gehörten der 3. Marine-Brigade von Loewenfeld an, besuchten ihre Eltern und wurden von den Kommunisten als Spione verhaftet und verurteilt. Böttcher aus Holsterhausen entkam der Hinrichtung in letzter Minute. 1922 wurde Karusseit vom Essener Schwurgericht wegen Anstiftung zum Mord zum Tode verurteilt. In der Verhandlung trat der Holsterhausener Böttcher als Zeuge auf. Das Urteil wurde in einer späteren Revisionsverhandlung in lebenslange Zuchthausstrafe umgewandelt. Karruseit kam 1925 im Zuge der von Hindenburg verhängten Amnestie auf freien Fuß. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde er mehrmals verhaftet, kam ins Konzentrationslager, dann in das Landeskrankenhaus Eickelborn, wo er nach offizieller Version 1937 an Herzmuskelerweiterung im Alter von 68 Jahren starb.
Rote Ruhrarmee verließ fluchtartig die Stadt und die Gemeinden
An diesem Tag, es war der 29. März 1920, zog sich die Rote Armee fluchtartig aus Dorsten in Richtung Kirchhellen zurück. Um der Brigade Loewenfeld die Verfolgung zu erschweren, versuchten Rotarmisten vergebens die alte Lippebrücke zu sprengen. Die Holzbrücke wackelte zwar, blieb aber intakt. Bessere Arbeit leisteten die Rotgardisten bei der Dorstener Eisenbahnbrücke der Strecke Dorsten-Borken, die durch eine Sprengung so beschädigt wurde, dass der Transport der Truppen des Freikorps behindert wurde.
Dorsten war für die Marine-Brigade ein strategisch wichtiger Brückenkopf
Die 3. Marine-Brigade Loewenfeld, die von Schlesien ins Ruhrgebiet beordert wurde, um an der „Niederwerfung des kommunistischen Umsturzversuches großen Stils“ mitzuwirken, wurde vom 23. bis 26. März in großen Transportzügen an den Nordrand des Ruhrgebiets gebracht und rückte auf Dorsten vor. Denn Dorsten war mit seinen Eisenbahnlinien und mehreren zusammenlaufenden Straßen für die Brigade ein wichtiger strategischer Brückenkopf. Am 28. März marschierten einzelne Formationen in drei Kolonnen zur Lippe vor, erzwangen bei Schermbeck einen ersten provisorischen Lippeübergang und besetzten Gahlen. Eine andere Kolonne setzte bei Sickingsmühle über die Lippe. Das Pionierbataillon reparierte die teilweise beschädigte Lippebrücke. Leicht hätten die Loewenfelder den Raum Dorsten erobern können, doch das Ultimatum der Regierung an die Aufständischen, die Waffen niederzulegen, war noch nicht abgelaufen.
Freikorpssoldaten gingen mit großer Brutalität vor
Der roten Herrschaft folgte nun die Besetzung der Loewenfelder, was man als eine Duplizität der Ereignisse nennen kann, denn nach der Säuberung durch das Freikorps Lichtschlag ein Jahr zuvor, säuberten nun die Loewenfelder mit gleicher Brutalität vor allem die Bergbaugemeinden von Rotarmisten und Kommunisten. Gefangene Rotgardisten wurden standrechtlich an der Lippebrücke auf Holsterhausener Gebiet erschossen, obgleich Standgerichte gesetzlich und nach der Weimarer Verfassung verboten waren. In der Nacht vom 2. auf den 3. April drangen Soldaten in Holsterhausen in die Häuser von drei Bergleuten ein und führten sie ab. Während einer der Verschleppten entkommen konnte, blieben die beiden anderen verschwunden. Der Freigekommene erklärte, er habe in der Nacht Schüsse gehört. Daraufhin wurde das in der Nähe der ehemaligen Beamtenkolonie der Zeche Baldur liegende Hohenkamp-Wäldchen durchsucht, wo tatsächlich die Vermissten erschossen und unter frisch aufgeworfener Erde verscharrt aufgefunden wurden. Es handelte sich um die beiden Holsterhausener Bergleute Bruno Salamon und seinen USPD-Genossen Schipp.
Angst, Schrecken und Todesurteile
Die Rote Armee zerfiel unterdessen in einzelne Haufen, von denen sich manche in das von den Briten besetzte Gebiet im Bergischen Land und nach Köln durchschlugen. Die Gesamtzahl der Toten, die die Ruhrarbeiter zu beklagen hatten, ist niemals genau ermittelt worden. Sie dürfte aber mit Sicherheit über tausend liegen. Die Reichswehr hatte 208 Tote und 123 Vermisste, die Sicherheitspolizei 41 Tote. Auf Monate hinaus blieben außerordentliche Kriegsgerichte im Ruhrgebiet tätig. Der Reichspräsident hob von den Todesurteilen 154 wieder auf. Nur zweieinhalb Jahre hatten die Dorstener, Holsterhausener und Hervester Zeit, sich von den Turbulenzen der ersten beiden Republikjahre zu erholen. Die Zeit der Angst und des Schreckens sollte noch nicht vorüber sein, denn durch die Besetzung des Ruhrgebiets im Januar 1923 durch französisch-belgische Truppen wurde auch Holsterhausen besetzt und erneut großen Repressalien und Belastungen ausgesetzt.
Siehe auch: Rote Ruhrarmee I