Kommandant Karusseit residierte im „Schwarzer Adler“
Als in Berlin politisierte Teile der Reichswehr mit General von Lüttwitz und rechtsradikale Politiker mit Wolfgang Kapp an der Spitze versuchten, die nach Stuttgart geflohene Regierung zu stürzen, riefen die Linken und die Arbeiter zum Generalstreik auf, an dem letztlich der rechte Umsturzversuch nach wenigen Tagen scheiterte. Nach Bekanntwerden des Kapp-Putsches am 13. März 1929 streikten auch in Dorsten die Arbeiter vor allem die der Zechen Baldur und Fürst Leopold. Der Streik ging im Ruhrgebiet bald in einen bewaffneten Aufstand über. Es bildeten sich bewaffnete Arbeitergruppen, die den im Industriegebiet noch vom letzten Jahr her operierenden Freikorps Lichtschlag, Lützow und Hacketau schwere Verluste beibrachten. Das Freikorps Schulz konnte sich mit den Düsseldorfer Verbänden unter schweren Verlusten nach Wesel durchschlagen.
Stärke der Ruhrarmee auf 50.000 bis 100.000 Mann geschätzt
Am 20. März 1920 verließen die in Dorsten stationierten Regierungstruppen die Stadt, in der sofort ein Aktionskomitee gebildet wurde, um Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten, aus dem aber die Bürgerlichen und die Mehrheitssozialisten ausgeschlossen waren. Am andern Tag besetzten Rotarmisten die Stadt und forderten die Bürger auf, ihre Waffen am Marktplatz abzugeben. Im Hotel „Schwarzer Adler“ richtete sich der Kommandant ein. Die durch Dorsten ziehenden Truppen wurden nach Wesel weitergeleitet. Oberbefehlshaber Gottfried Karusseit erklärte Dorsten und die Herrlichkeit zum Kampfgebiet der gesamten Roten Ruhrarmee zwischen Münsterland und Wesel, deren Stärke auf 50.000 bis 100.000 Mann geschätzt wurde. Tag und Nacht dröhnte von Wesel her Gefechtslärm. Für die Rote Ruhrarmee verschlechterte sich in den folgenden Tagen die militärische Situation zusehends. Verwundete und gefallene Rotgardisten wurden von Wesel nach Dorsten geschafft. Die Front rückte näher und in einem Gefecht bei Raesfeld fielen 40 Rotarmisten. Als am 26. März das Gerücht durchsickerte, dass die berüchtigten Truppen des Reichswehrministers Gustav Noske („Noske kommt!“) anrückten, verließen die Rotgardisten in heillosem Durcheinander die Stadt, kamen aber nachts zurück, als bekannt wurde, dass es nur ein Gerücht war. Dennoch wurde die militärische Lage für die Rotarmisten unhaltbar. Im Dorstener Hauptquartier erschoss sich ein Hauptmann der Roten Ruhrarmee, als er hörte, dass das Freikorps von Loewenfeld im Anmarsch sei.
Hervester Freikorpskämpfer wegen angeblicher Spionage erschossen
Der Hervester Baltikumkämpfer Wenzeslaus Sametz und sein Holsterhausener Kamerad Reinold Böttcher waren Soldaten in der 3. Marine-Brigade Loewenfeld. Bevor das Freikorps nach Dorsten rückte, baten sie ihren Kompaniechef um Kurzurlaub, weil sie ihre Elternhäuser in Hervest bzw. Holsterhausen aufsuchen wollten. Böttcher wurde am 28. März von sechs Rotgardisten in der Wohnung seiner Eltern festgenommen und zunächst im Holsterhausener Polizeikommissariat vom Kompanieführer Rogge, der ein Protokoll anfertigte, wegen Spionage gegen die roten Truppen vernommen. Daraufhin wurde Böttcher nach Dorsten gebracht, wo er von dem Ortskommandanten mit Schlägen und den Worten „Du Schwein warst beim Freikorps Lichtschlag“ empfangen wurde. Abschnittskommandeur West, Gottfried Karusseit, ließ in der Nacht vom 28. auf den 29. März, also die Nacht vor dem befohlenen Rückzug aus Dorsten, die beiden gefangen genommenen Reichswehrsoldaten Reinold Böttcher und Wenzeslaus Sametz nach einer „Gerichtsverhandlung“ im Hotel „Schwarzer Adler“ zum Tode verurteilen. Nach kurzer Verhandlung sagte Karusseit zu Böttcher: „Du wirst erschossen!“. Der Verurteilte wurde in den Nebenraum gebracht, wo Rotarmisten über ihn herfielen und ihm Uhr, Kette, zwei goldene Ringe sowie Jacke und Hose abnahmen. Durch die Wand hörte er, wie Karusseit seinen Kameraden Sametz ebenfalls zum Tode verurteilte. Beide sollten in der Nacht erschossen werden. Die Rotarmisten führten die beiden nachts zur Lippebrücke, wo Sametz erschossen und seine Leiche in die Lippe geworfen wurde. Als der Holsterhausener Böttcher vor den Gewehrläufen des Erschießungskommandos stand, kam ein Schreiber herbeigelaufen und überbrachte den Befehl, das Urteil noch nicht zu vollstrecken, da Böttcher noch einmal verhört werden sollte. Er wurde nachts um 3 Uhr ins Gefängnis gebracht. Zu einem Verhör ist es nicht mehr gekommen. Böttcher erhielt am Morgen einen Passierschein und konnte gehen. An diesem Tag, es war der 29. März, zog sich die Rote Ruhrarmee fluchtartig aus Dorsten in Richtung Kirchhellen zurück.
Karusseit starb 1937 im Landeskrankenhaus Eickelborn
Nach Niederschlagung des Aufruhrs wurde Gottfried Karusseit nach einer mehrtägigen Verhandlung am 20. Dezember 1922 vom Essener Schwurgericht wegen Anstiftung zum Mord zum Tode verurteilt. In der Verhandlung trat der Holsterhausener Böttcher als Zeuge auf. Das Urteil wurde in einer späteren Revisionsverhandlung in lebenslange Zuchthausstrafe umgewandelt. Karusseit kam 1925 im Zuge der von Hindenburg verhängten Amnestie auf freien Fuß. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme kam er ins Konzentrationslager, dann in das Landeskrankenhaus Eickelborn, wo er nach offizieller Version 1937 an Herzmuskelerweiterung im Alter von 68 Jahren starb.
Das Freikorps Löwenfeld mordete in Dorsten und anderswo ungesühnt
Zwischen dem 29. und 31. März 1920 eroberte die 3. Marinebrigade des Freikorps von Loewenfeld die Stadt durch Beschießung. Gefangen genommene Rotgardisten wurden an der Mauer der Krankenanstalt „Maria Lindenhof“ standrechtlich erschossen und die Leichen in die Lippe geworfen. Andere wurden auf dem Marktplatz durch Genickschuss getötet. In Holsterhausen holten Freikorpssoldaten, die drei Wochen lang in Dorsten lagen, die Arbeiter Bruno Salamon und H. Schipp aus den Betten und erschossen sie. Joseph Nalik und Erich Neu aus Bottrop kämpften in der Roten Ruhrarmee. Beiden wurden gefangen genommen und vom Marinefreikorps Löwenfeld am 30. März 1920 in Dorsten hingerichtet.
Durch Kämpfe großer Gebäudeschaden in Dorsten
Die Rote Ruhrarmee zerfiel in lose Gruppen, die sich nach Köln und ins Bergische Land durchschlugen. Während der Kommandeur der Roten Ruhrarmee, Gottfried Wilhelm Karusseit, wegen Mordes verurteilt wurde, blieben die Morde des Freikorps in Dorsten ungesühnt. Der Schaden, den Dorsten während dieser Woche Besetzung durch die Rote Ruhrarmee erlitten hatte, einschließlich des Schadens, den die Kanonen des Freikorps verursachten, bezifferte die „Dorstener Volkszeitung“ auf 270.000 Mark (Requisition, Diebstähle, Kampfschäden).
Siehe auch: Rote Ruhrarmee II (Bergbaugemeinden)
Quellen/Literatur:
Wolf Stegemann/Anke Klapsing „Dorsten zwischen Kaiserreich und Hakenkreuz“, Dorsten 1997. – Hermann Bogdal „Rote Fahnen im Vest“, 2 Bd., Essen 1983. – Wolf Stegemann „Holsterhausen im Umbruch 1900 bis 1933. Kaisers Krieg und Weimars Not“, 2007.