Ein künstliches Gebilde mit über 369 Gütern im Nordwesten des Vests
Der Reichshof Dorsten war eine Gemeinschaft von Höfen, die zusammen zu einem Hofesgericht gehörten. Im 12. Jahrhundert wurde ein Teil von ihnen zu einer Freiheit erhoben und es verblieb etwa nur die Hälfte in dem alten Gerichtsverband. Wie aus seiner räumlichen Trennung ersichtlich, war der Reichshof im weiteren und engeren Sinne ein künstliches Gebilde mit über 369 Gütern, die im Nordwesten des Vests lagen, hauptsächlich an der Straße von Dorsten nach Kirchhellen und Dorsten nach Buer im Westen, von Dorsten nach Haltern im Norden, von Haltern nach Recklinghausen im Osten, von Recklinghausen über Buer nach Kirchhellen im Süden. In Scholven gab es zehn an den Dorstener Reichshof abgabepflichtige Güter, in Westerholt zwei, in Raesfeld neun, in Ulfkotte drei, in der Herrlichkeit Lembeck sechs und in Dorsten selbst elf, um einige zu nennen. Da in den Bauerschaften aber auch Güter lagen, die an andere Höfe Abgaben zahlen müssten, war das Gebiet des Dorstener Reichshofs zerklüftet und zerrissen. Die willkürlich anmutende Auswahl der Güter und Zuteilung zu den Höfen scheint in fränkischer Zeit (siehe Besiedlung) wahrscheinlich von Karl dem Großen absichtlich im Sinne einer besseren Beherrschung als Neueinteilung so vorgenommen worden zu sein. Diesen neu gebildeten künstlichen Reichshöfen standen natürliche Oberhofgebilde aus heidnischer Zeit gegenüber, die sich in Namen und Grenzen größtenteils bis heute erhalten haben: die Bauerschaften mit ihren Haupt- und Unterhöfen.
Der Reichshof Dorsten hatte für Streitigkeiten ein eigenes Hofesgericht, als Berufungsinstanz diente das Vogteigericht in Recklinghausen. Mit den acht anderen Reichshöfen im Vest war der Reichshof Dorsten dem Reichshof Recklinghausen untergeordnet. Aus dem Inhaber des Reichshofs Recklinghausen entstand der Graf der Grafschaft Recklinghausen bzw. des Vests Recklinghausen. Der Graf war zuständig für die Nichthöfler als Reichsvogt und für die Reichshöfe.
Graf bzw. Herzog von Kleve war der Schirmvogt
Die Inhaberin des Reichshofs Dorsten, Emeza (auch Regimoud genannt; es gibt noch andere Schreibweisen und Namen), angeblich aus dem Hause Kappenberg, aus dem auch die ersten Grafen Karls des Großen im Gebiet zwischen Lippe und Ruhr zu stammen scheinen, zog sich in das Stift Xanten zurück und verschrieb dem Stift mit anderen Gütern auch den Reichshof Dorsten. Sie starb in Xanten wenige Jahre vor 1075. Ob sie tatsächlich aus dem Hause Kappenberg kam, ist nicht belegt. Ein Schultheiss (villicus) übernahm die Hofesgerichtsbarkeit in erster Instanz, der gleichzeitig Verwalter des Reichshofs war. Der Graf von Kleve übernahm als Schirmvogt des Stifts Xanten die Vogtei über den Reichshof Dorsten, so dass dieser nun zwei Schirmvögte hatte: den einen wegen der Reichszugehörigkeit, den anderen wegen der Zuordnung zu Xanten, den einen in der Person des Grafen von Recklinghausen, später Westerholts bzw. Kurkölns (ab 1175), den anderen in der Person des Grafen von Kleve. – Dieser Umstand der doppelten Vogtei blieb nicht ohne Einfluss auf die Weiterentwicklung Dorstens. Die Rechte Kurkölns und Kleves begannen zu kollidieren.
Dorsten wurde dem Einfluss Kleves immer mehr entzogen
Durch die geschickte Bildung des Reichshofs Dorsten zu einer „Freiheit Dorsten“ durch Kurköln, das 1175 die Grafschaft und Vogtei Recklinghausen erbte, wurde der Reichshof Dorsten der kriminalgerichtlichen Vogtei Kleves entzogen und der Einfluss Kleves auf Dorsten vermindert (siehe Rechtswesen). Doch blieben Kleves Ansprüche bestehen. Daher musste Kurköln bei Erhebung Dorstens zur Stadt (Stadtwerdung) die klevische Einwilligung erbitten, die jährliche Zahlung einer Mark Silber aus der Stadt Dorsten gewährleisten, im Falle eines gegenseitigen Krieges die Neutralität wahren, im Falle eines sonstigen Krieges die freie Benutzung der Festung und die Freiheit klevischer Untertanen gewährleisten.
Daraus ergibt sich, dass sowohl die Kurkölner als auch die Klevener eine Burg in Dorsten hatten. Die Grafen von Kleve hatten nach der Schenkung des Reichshofes Dorsten an das Stift Xanten ihre Advocatie wohl ausgenutzt. Allerdings musste Kleve den Kürzeren ziehen, da Kurköln durch den Besitz des Reichshofs Recklinghausen nicht nur mit Kleve gleichzog, sondern durch Anrechte auf die Vogtei der Xantener Stiftsgüter sogar im Vorteil war. Mit der Erhebung der Freiheit Dorsten zur Stadt war die Gerichtsbarkeit und Herrschaft des Stifts Xanten über diesen ehemaligen Teil des Reichshofes beendet. An die Stelle des früheren Hofesschulzen trat der Magistrat, an die Stelle des Recklinghäuser kurkölnischen Richters ein Dorstener kurkölnischer Richter. Dorsten schied somit als ein Teil des Reichshofes Dorsten aus.
Xantener Speicher in Dorten
Noch bis ins 18. Jahrhundert wurde aus bedeutenden Häusern in Dorsten Zinsen und Pachten an die Rentei des Kapitels zu Xanten bezahlt. Ein Haus des früheren Xantener Speichers, steht heute noch an der Straße „An der Vehme“. Der Zins wurde mit einer kleinen Münze im Aussehen einer Fischschuppe bezahlt. Daher hieß dieses Geldstück „Müschelchen“, eine damals selten gewordene Münze, die unter den gängigen Münzen nicht mehr gezählt wurde. Ein großer Teil der nahe bei der Stadt Dorsten gelegenen Gärten, Ländereien und Wiesen im Oberhof Dorsten waren ebenso zinspflichtig, und es mussten an den Xantener Speicher Zinsen in Naturalien oder in Geld bezahlt werden. Zudem geht aus einer von dem Geschichtsforscher J. E. H. Rive als „sehr merkwürdigen historischen Notiz“ hervor, nach der in älteren Zeiten dem Dechanten des Kapitels in Xanten, wenn er in der Stadt Dorsten übernachtete, die Ehre zuteil wurde, dass ihm der Bürgermeister der Stadt die Schlüssel derselben überbrachte. Aus Notizen aus dem Jahre 1401, die Rive auswertete, schloss der Geschichtsforscher u. a., dass das Kapitel zu Xanten eigentlicher Eigentümer des Oberhofes Dorsten und der dazu gehörenden Hobsgüter war, oder von den Gütern, deren Besitzern die Erbnutzungsrechte daran hatten. Rive erläutert die Rechtsgrundsätze des Besitzes:
„…und die Güter in Person besitzen und bewirtschaften müsse, dass es von der Gnade und der Nachsicht des Kapitels abhänge, wenn hörige Besitzer andere Personen ihre Hobsgüter besitzen oder bewirtschaften ließen, dass die neu Antretenden eine gewissen Summe entrichten mussten, dass im Falle, der Besitzer kinderlos stirbt, die nächsten Erben das ,erledigte Gut’ gegen eine gewisse Summe wieder gewinnen und erwerben konnten, und dass das Kapitel zu Xanten kein Recht hatte, diesem zu widersprechen, wenn der neue Gewinnende oder Besitzer bereit war, die gutsherrlichen Abgaben und was sonst Rechtens davon zu leisten, das Gut selbst zu bewohnen und zu bewirtschaften.“
Hobsgüter waren nach Xanten abgabepflichtig
Auch fand Rive heraus, dass seit jeher der Herzog von Kleve Schirmvogt des Hofes zu Dorsten gewesen, und dass von den Hobsleuten jährlich 25 Mark als „Vaightbede“ (Vogtei-Beede) sowie von jedem bewohnten Hobsgut ein Huhn (Fastauen-Hoyn = Fastnachtshuhn) an den Schirmvogt abgeführt werden musste. Zudem hatten Hobsleute dem Schirmvogt alljährlich nach Margaretha nach dem Hause Götterswick vier Zugpferde zu senden gehabt, um das Getreide des Schirmvogts in die Scheune zu fahren. Dafür musste der Schirmvogt das Futter der Pferde stellen und die Hobsleute des Hofes Dorsten im Kriegs- oder Streitfalle verteidigen und deren Rechte und Freiheiten schützen und wahren.
Hobshöfe oder Hobsgüter waren in Westfalen Landguter (Domänengüter) bzw. Gewinngüter, die von einem Oberhof abhängig und gewissen Statuten unterworfen waren. Ihre Rechtsverhältnisse wurden durch Hofrechte bestimmt. Die Hobshöfe durften nicht geteilt werden. Nur einer der Erben durfte den Besitz antreten. In der Regel war dies der älteste Sohn des Erblassers, in Ermangelung von Söhnen die älteste Tochter. Die übrigen Kinder mussten, wenn sie das Hobsgut verließen, mit einem Brautschatz und Ausrüstung, welche gewöhnlich vorher festgelegt waren, sonst aber mit Bewilligung des Hobsgerichtes festgestellt wurden, abgefunden werden (siehe Emeza; siehe Xanten; siehe Xantener Speicher; siehe Oberhof Dorsten).
Quelle:
J. E. H. Rive „Oberhof oder Reichshof Dorsten“, Köln 1824.