Paul-Gerhardt-Haus – Schließung

Beschluss des Evangelischen Kirchenverbands stößt auf harsche Kritik

Streit um das Paul-Gerhardt-Haus in Hervest-Dorsten

Die Familienbildungsstätte soll bis 2020 aus finanziellen Gründen geschlossen werden. Der Träger, der Verband Evangelischer Kirchengemeinden in Dorsten, wird dann das Paul-Gerhart-Haus finanziell nicht mehr unterstützen. Dies beschlossen die Verbandvertreter Ende März 2017 mit großer Mehrheit. Ein anderer Beschluss lautete, dass bis Ende 2019 Wege gesucht werden sollen, für die Bildungsstätte eine andere Trägerschaft zu finden, möglicherweise einen verein zu gründen. Pfarrer Michael Laage von der Kirchengemeinde Hervest-Wulfen, will sich nun dafür einsetzen, dass das Paul-Gerhardt-Haus erhalten bleibt.
Vorausgegangen waren dem Schließungsbeschluss Meldungen über unterschiedliche Zahlen des Zuschussbedarfs des Evangelischen Kirchenverbandes Dorsten für ihre Familienbildungsstätte. Während der Pfarrer und Verbandsvorsitzender Manfred Wrobel den Zuschussbedarf mit 40.000 Euro bezifferte, bezifferte Pfarrer Erich Lutterbeck von der Johannes-Altstadtgemeinde den Betrag auf 80.000 bis 100.000 Euro. Im Vorfeld dieser Auseinandersetzung um die Höhe der Finanzierung hatte Lutterbeck sogar die Zahl 360.000 Euro kolportiert. Dies begründete der Geistliche, so steht’s in der „Dorstener Zeitung“, mit dem Satz: „Das ist der Unterschied zwischen einer optimistischen und pessimistischen Berechnung!“ Eine kleine Anmerkung hierzu sei erlaubt. In der Politik könnte man das auch so formulieren: „…zwischen Fakten und alternativen Fakten!“ Die überwiegende Mehrheit, so die DZ, teilte im Gegensatz zu ihrem Vorsitzenden Wrobel, Lutterbecks Ansicht.

Pfarrer operierten und argumentierten mit unterschiedlichen Zahlen

Im Vorfeld dieser Beschluss fassenden Auseinandersetzung um das Zahlenwerk, nahm die langjährige Leiterin des Paul-Gerhardt-Hauses (seit 1984), Ursula Klare, öffentlich über die „Dorstener Zeitung“ Stellung. Sie warf Pfarrer Lutterbeck vor, mit falscher Entscheidungsgrundlage zu operieren. 360.000 Euro betrage der Gesamthaushalt des Paul-Gerhart-Hauses. Diese Summe werde zum größten Teil durch Landesförderung sowie Teilnehmergebühren finanziert und nicht durch den Verband der Evangelischen Kirchengemeinden in Dorsten. Dieser sei lediglich mit 40.000 Euro beteiligt. Das PGH erreiche jährlich 2300 Erwachsene und 900 Kinder mit „guter evangelischer Arbeit“. Dies, so errechnete Ursula Klare, müsste der evangelischen Kirche pro Person und Jahr 12,50 Euro wert sein. Bei Schließung, so Ursula Klare im Gespräch mit der „Dorstener Zeitung“, müssten u. a. Personalstellen gekündigt werden. Daher kam Ursula Klare zu dem Schluss: „Die Schließung des Paul-Gerhardt-Hauses ist teurer als der Fortbestand.“ Ursula Klare leitet das Paul-Gerhardt-Haus bereits seit 30 Jahren.
Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende des Rates der Stadt forderte die evangelischen Pfarrer in Dorsten auf, sich „nicht von vermeintlichen wirtschaftlichen Zwängen verleiten zu lassen, um sich aus einer der zentralen gesellschaftlichen dun christlichen Aufgabenstellungen der evangelischen Kirche zurückzuziehen.“

Kirchenverband hat „Glaubwürdigkeit verspielt“

Dennoch stimmten 13 Mitglieder der Verbandsvertretung für die Schließung, drei waren dagegen, ein Mitglied enthielt sich der Stimme. Stefan Diebäcker in der „Dorstener Zeitung“ kommentierte das Verhalten des Evangelischen Kirchenverband: „Er hat in den letzten Tagen Glaubwürdigkeit verspielt. Mal fehlen 140.000 Euro, dann nur noch 80.000 bis 100.000 – so genau weiß man es offenbar selbst nicht. Wer binnen weniger Tage mit unterschiedlichen Zahlen operiert, ein anderes Rettungskonzept aber für unrealistisch hält, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, sich aus der Verantwortung stehlen zu wollen…“ Die Situation von Pfarrer Michael Laage bezeichnete Diebäcker als „einen schwierigen Spagat“ des Geistlichen, dem die „Zerrissenheit anzumerken“ sei. – Einig waren sich wohl alle Mitglieder der Verbandsvertretung darüber, dass der Kirchenverband mit seinen 18.300 evangelischen Gläubigen in Dorsten seit 2011 finanzielle Defizite hat, die nicht ignoriert werden dürfen.

Leserbriefe: Kritik an mangelnder Transparenz und Alternativlosigkeit

Der Berichterstattung über die Schließung schlossen sich in der „Dorstener Zeitung“ wochenlang Leserbrief-Veröffentlichungen an. In ihnen kritisierten die Leser durchgängig die Schließung als negativen Vorgang. Einige Überschriften der veröffentlichten Leserbriefe: „Mit offenen Karten spielen“ (18. 3.), „Erhalten und an anderer Stelle sparen“ (18.3.), „Die Zahl 360.000 war noch nie richtig“ (16.3.), „Warum wird mit Zahlenspielen taktiert?“ (4.4.), „Schließen des PGH ist furchtbar“ (18.2.), „Was sind die tatsächlichen Gründe?“ (6.4.), „Für Heuchelei gibt’s genug Geld“ (25.3.), „Große Sorgen um die Angebote“ (17.3.).
Ein Dorstener zitierte Martin Luther: „Für Heuchelei gibt’s Geld genug, Wahrheit geht betteln.“ Und er schreibt weiter: „Wer die Öffentlichkeit in den Gemeinden scheut und immer wieder, wie Pfarrer Lutterbeck, nicht überprüfbare Zahlen kurzfristig in die Debatte wirft, ist nicht an einer fairen Lösung für alle Beteiligten interessiert. (…) Herr Pfarrer Lutterbeck hat nachhaltig das Ansehen der evangelischen Kirche in Dorsten beschädigt.“
Der emeritierte Pfarrer in Hervest, Gerhard Bornefeld bemängelte die Darstellung der Pfarrer mit dem Zahlenwirrwarr, wenn er schreibt: „Richtig und wichtig wäre es gewesen, wenn die Pfarrer beim ersten Pressegespräch gesagt hätten, wie viel Geld dem Verband zur Verfügung steht und für welche Bereiche er wie viel ausgibt.“ Auch kritisierte er die angebliche Alternativlosigkeit zur Schließung des PGH. Dadurch brauchten die Pfarrer, so Bornefeld, „ihre eigenen Lieblingsprojekt nicht auf den Prüfstand zu stellen“. Ein anderer Leser hob das gute Angebot des Paul-Gerhardt-Hauses als Familienbildungsstätte hervor: „Das PGH präsentiert ein Angebot, das von den ersten Tagen des Kindes bis ins hohe Alter der Senioren reicht.“ Er kritisierte die widersprüchlichen Finanzierungszahlen der Pfarrer. „Hier wird von seitens des Verbandes standhaft an der Haltung festgehalten, Transparenz zu vermeiden.“ Man könne doch auch darüber nachdenken, schreibt er, die Pfarrstellen von drei auf zwei zu reduzieren, und so das Haushaltsproblem zu lösen. Eine Leserin meinte in Facebook: „Luther hätte eher eine Kirchenkanzel verkauft, als das PGH aufgelöst!“
Nach dem wirklichen Warum der Schließung fragt ein anderer Leser und verweist darauf, dass das Paul-Gerhardt-Haus seit jeher immer offen für Gruppen war, „die zum kritischen bürgerschaftlichen Engagement zu zählen sind“. Er erinnerte an die Zeit der „Nachrüstungsdebatten“. Sollten politische Gründe eine Rolle zur Schließung geführt haben, so fordert der Leser, „sollten diese auf den Tisch“.

Leserbrief an die Dorstener Zeitung: Man reibt sich die Augen

Gabriele Ahrens-Strötzel, Leserin der „Dorstener Zeitung“, nahm am 23. November 2017 in einem Leserbrief Stellung zum beabsichtigten Schließung des Paul-Gerhardt-Hauses. Anlass war eine Darstellung der günstigen Finanzlage des ev. Kirchenkreises (Auszug):
„Auf der Synode des Kirchenkreises, zu dem auch der Verband evangelischer Kirchengemeinden zählt, wird eine sehr günstige Finanzlage mit einem satten Überschuss präsentiert (1,4 Millionen Euro). Die Darstellung der Finanzlage im Zusammenhang mit dem Schließungsbeschluss zum Paul-Gerhardt-Haus in der Dorstener Zeitung vom 15. März 2017 sah aber ganz anders aus. Gut, daran kann sich natürlich niemand mehr erinnern. Und vorsorglich wird ja auch auf der Synode vor einer negativen Entwicklung ab 2019 gewarnt. Als ehemalige, langjährige Mitarbeiterin des Paul-Gerhardt-Hauses kenne ich das Szenario der aktuell guten Finanzlage in Verbindung mit vor einer baldigen Verschlechterung warnenden Prognose. Diese Prognosen sind in den seltensten Fällen eingetreten, führten aber im Vorfeld zu teils gravierenden Sparmaßnahmen.
Dass die Sparmaßnahme „Schließung des Paul-Gerhardt-Hauses“ gar keine Sparmaßnahme ist, da sie mit unkalkulierbaren Kosten verbunden ist, wurde in dieser Zeitung schon mehrfach ausgeführt. Stattdessen hat sie zu einem weiteren Glaubwürdigkeitsverlust der evangelischen Kirche in Dorsten geführt, der sich durch die Ereignisse der letzten Wochen – dem Rücktritt des Verbandsvorsitzenden und der Kündigung der langjährigen Geschäftsführerin – zu einer Krise entwickelt hat. Ausgang ungewiss. Diesen Gesamtzusammenhang sollte man bei aller Freude über die gute Finanzlage nicht vergessen.“

Doch falsche Zahlen zur Schließung der Familienbildungsstätte vorgelegt? 

In der Stadtteilkonferenz Hervest machten sich Anfang April 2017 die rund 60 teilnehmenden Stadtteilbewohner für den Erhalt des Paul-Gerhardt-Hauses stark. Die anwesende Geschäftsführerin des Verbandes der Evangelischen Kirchengemeinden, Monika Engfer, zeigte sich gerührt: „Es ist schön zu wissen, wie groß die Wertschätzung des Hauses im Stadtteil ist.“ Auch in dieser Versammlung sorgten die widersprüchlichen Zahlen, mit denen die Hausbefürworter und -gegner im Vorfeld der Entscheidung der Verbandsvertretung operiert hatten, für Irritationen und Ratlosigkeit bei den Bürgern. Doch die Geschäftsführerin des Verbandes klärte auf, wie nach ihrer Sicht das unterschiedliche und in die Kritik geratene Zahlenspiel, das zur Schließung des Paul-Gerhardt-Hauses führte, zustande gekommen war. Darüber berichtet die „Dorstener Zeitung“ am 7. April: Bis kurz vor der Versammlung sei in enger Abstimmung zwischen Kirchenverband, Hausmitarbeitern und Gemeinden ein Entlastungspapier erarbeitet worden, in dem der hohe Eigenanteil für das Paul-Gerhardt-Haus auf 40.000 Euro reduziert worden war. Monika Engfer: „Mit diesem Entlastungspapier sind wir in die Verbandsvertretungssitzung gegangen. Und dann ist etwas noch nie Dagewesenes passiert: Jemand, der vorher mit uns das Entlastungspapier entworfen hat, machte eine eigene, viel höhere Rechnung in einem zweiten Papier auf, die am Ende zum Schließungsbeschluss geführt hat.“

Kuratorium zum Erhalt der Bildungsstätte gegründet – Neue Leiterin

Im März 2017 wurde ein Kuratorium gegründet, das sich für den Erhalt der evangelischen Familienbildungsstätte einsetzt. Ihm gehören überwiegend Kursleiterinnen und Kursleiter an. Sie verstehen ihre Tätigkeit im Sinne des Begriffs „curare“ (sich liebevoll kümmern, sich sorgen). In diesem Sinne bittet das Kuratorium, das Paul-Gerhardt-Haus zu unterstützen und zu begleiten sowie sich für den Erhalt der Einrichtung stark machen. – Seit April 2018 hat das Paul-Gerhard-Haus mit Marion Duffert-Tenorth eine neue Leiterin. Denn nach 34 Jahre wechselte die bisherige Leiterin Ursula Klare in den Ruhestand. Marion Duffert-Tenorth sieht ihren Schwerpunkt in der Bindungsarbeit, die im Paul-Gerhardt-Haus seit jeher großgeschrieben wird und mithilfe der Kursleiterin Maria Frenzel Früchte in vielen Dorstener Familien getragen hat.

Beschluss der Schließung wurde Mitte 2018 einstimmig zurückgenommen

Nicht nur das als Begründung zur Schließung des Paul-Gerhardt-Hauses „ungeschickt“ vorgetragene Zahlenspiel, das zu Protesten in der Öffentlichkeit und aus der Gemeinde führte, mag bei den Verantwortlichen der evangelischen Kirche zur Einsicht gebracht haben, dass Bildung auch etwas mit Kirche zu tun hat. Die Vertretung des Verbandes Evangelische Kirchengemeinden in Dorsten hat im Juni 2018 ihren Schließungsbeschluss revidiert und einstimmig für eine zunächst zehnjährige Weiterführung mit neuem Konzept die Öffentlichkeit überrascht. Allerdings soll in einem Teil des Gebäudes ab 2019 die Evangelische Kindertagesstätte „Regenbogen“ untergebracht und das Kursangebot um 20 Prozent gekürzt werden. man weitersehen.

Rückblick: 1998 sollte das PGH schon mal geschlossen werden

Es ist nicht das erste Mal, dass die evangelische Kirche an die Schließung des Paul-Gerhardt-Hauses denkt. Sie dachte auch im Jahr 1998 daran, also rund 20 Jahre vor dem aktuellen Beschluss aus dem Jahre 2017. Damals war die finanzielle Situation nicht so angespannt wie heute und dennoch wollte man die Schließung dieser schon damals hoch effizienten Bildungseinrichtung. Kritiker, vor allem aus den eigenen Reihen, warfen den Befürworters unter des Dorstener Kirchenoberen ein mangelndes „Sinn-Verständnis“ für Bildung und ein alles überdeckendes Verzagen in Sachen Finanzen vor. Ihnen wurde auch vorgehalten, „wenn sich die Kirche als Volkskirche und mit dem Privileg des unmittelbaren Zugriffs auf Steuernmittel ausgestattet sich auf das Kerngeschäft der Verkündigung zurückzieht, wird sie keine Zukunft mehr haben“. – Das Paul-Gerhardt-Haus wurde 1998 nicht geschlossen und blieb in Trägerschaft der evangelischen Kirche.


Quellen: DZ vom 14. und 18. März 1998; 9. Januar; 18. Februar; 15., 16., 17., 18., 23. und 25. März; 4., 6. und 7. April 2017.  – Jennifer Riediger in DZ vom 20. Juni 2018

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