Kurpfuscher im Vest musste im Gefängnis Strafe absitzen
Von Wolf Stegemann. – Zum Heil- und Krankenwesen, das eine lange Geschichte hat, gibt dieses Online-Lexikon unter etlichen Stichpunkten Auskunft. Es fängt an mit der Stiftung des Kanonikers Gottfried Bley, über die Pest, Lepra und andere Seuchen, die Siechenhäuser und die Seikenkapelle, über die Beghinen bis hin zur Holsterhausener Anstalt für Epileptiker und Schwachsinnige der Barmherzigen Brüder „Maria Lindenhof“ und die unterschiedlichen Armenhäuser und Hospitäler, die sich schließlich 1857 zum St. Elisabeth-Krankenhaus entwickelt haben.
In den letzten Jahrzehnten des Ancien régime unternahmen viele geistliche Fürstentümer unter dem Zeichen des aufgeklärten Absolutismus intensive Anstrengungen, den Anschluss an die moderne Zeit zu finden. Trotz des schlechten Rufs, der den geistlichen Staaten vor allem durch die Geschichtsschreibung des vorigen Jahrhunderts anhaftet, hatten diese u. a. auf dem Gebiete der Wohlfahrtspolitik beachtliche Erfolge aufzuweisen, wenn diese auch von der Bevölkerung ungenügend angenommen wurden. Das galt sowohl für das Fürstbistum Münster (Herrlichkeit) wie für das Erzbistum Köln (Dorsten). So verschieden die Einrichtungen des Heilwesens waren, so unterschiedlich hat sich der Ärzteberuf entwickelt. Im 18. Jahrhundert gab es im Vest Recklinghausen, wie fast überall in Deutschland, zwei Klassen von Ärzten: Die medici (juri), die eigentlichen Ärzte, die selten waren, und die Chirurgen oder Wundärzte, zu denen auch die Geburtshelfer gehörten. Diese waren auch auf Grund der ständigen Kriegzustände in großer Zahl vorhanden.
Nur unvermögende Männer wurden in Lazaretten aufgenommen
Die eigentlichen Ärzte studierten an Universitäten, waren deshalb akademisch gebildet und bekleideten auch gesellschaftlich eine höhere Stelle als Chirurgen, die Ärzte zweiter Klasse und fast nur Praktiker waren. Ihnen fehlte die theoretische Ausbildung. Sie rekrutierten sich meist aus Barbieren und Handwerkslehrlingen anderer Chirurgen. Noch im Jahr 1800 musste ein Mann einen Barbierladen besitzen, wollte er seine „Kunst“ als Chirurg ausüben. Erst die französische Regierung des Großherzogtums Berg, zu dem Dorsten und das Vest in französischer Zeit gehörten, gab dem Medizinalwesen eine Ordnung. Für ihre in den Schlachten verwundeten Soldaten richteten sie in den Städten Lazarette ein, da die bestehenden kleineren Krankenhäuser unansehnlich und räumlich zu beschränkt waren. Diese Lazarette versorgten auch die deutsche Zivilbevölkerung. Patienten mit chronischen oder unheilbaren Krankheiten mussten in ihren Wohnungen bleiben. Sie und diejenigen, deren akute Krankheit sich in eine langwierigere veränderte, wurden nach Hause gebracht, mit Arzneimitteln versorgt, und man sah nach ihnen. Nur unvermögende Männer mit akuten, heilbaren Krankheiten wurden im Lazarett aufgenommen und mussten nichts dafür bezahlen. Diese Regelung galt auch für angehende Ärzte, Wundärzte, Assistenten oder Krankenwärter. Immer bei Freiwerden eines Krankenbettes wurden die Pfarrer der umliegenden Pfarreien benachrichtigt. Diese benannten dann dem Verwalter ein Mitglied ihrer Pfarrgemeinde, welches ins Lazarett wollte und musste. Daraufhin besuchte der Hospitalarzt den Betroffenen und entschied, ob der Kranke aufgenommen wurde oder nicht. Im Aufnahmezimmer wuschen Helfer den Kranken, dessen Kleidung und Habseligkeiten aufbewahrt und ihm Spitalkleider gegeben wurden. Kaum im Krankenzimmer angekommen, musste der Kranke einen Beichtvater wählen und sich mit den heiligen Sakramenten versehen lassen. Kranke, die bereits drei Tage lang normale Essensportionen bekamen, wurden entlassen. Der Verwalter des Lazaretts hatte auf die Güte und auch auf den Preis der zu kaufenden Lebensmittel zu achten. Der Spitalarzt und der Wundarzt führten ein Diätbuch, in dem sie täglich die von ihnen verordnete Kost eines jeden Kranken vermerkten. Der Verwalter war verpflichtet, sich nach diesen Anweisungen zu richten. Es gab feste Essenszeiten, die nach den Besuchen der Ärzte bei den Patienten ausgerichtet waren. Diese Maßnahme sollte verhindern, dass Kranke ihr Essen aufbewahrten und es später in verdorbenem Zustand aßen.
Kurkölnische Reformen waren nur unzureichend
Bevor die Franzosen Anfang des 19. Jahrhunderts Westfalen und somit das Vest besetzten und das Erzstift Köln und das Bistum Münster als weltliche Fürstentümer auflösten, versuchte auch die kurkölnische Regierung, das Heil- und Krankenwesen zu reformieren, was ihr allerdings nicht ausreichend gelang. Es scheiterte oft zum einen an der jahrhundertealten Tradition des Medizinwesens, das sich wegen der fest gefügten Verwurzelung alter Missbräuche nur schlecht reformieren ließ. Zum andern scheiterte eine umfassende Reform auch an dem Widerstand der Bevölkerung, die jeglicher Neuerung auf dem Gebiet des Medizinalwesens mit Misstrauen gegenüberstand und sich lieber dem Kurpfuscher anvertraute. Daher hatten die Ende des 18. Jahrhunderts eingeleiteten Reformen der kurkölnischen Regierung keine Aussicht auf Erfolg. Dazu kam, dass der Stand der medizinischen Wissenschaft damals noch nicht so groß war, als dass man das Heilwesen durch gesetzliche Verordnungen umstellen konnte.
Bereits 1764 stellte Maximilian Friedrich von Königsegg-Rothenfels, Kurfürst von Köln und Bischof von Münster, den Wissenschaftler und Arzt Christoph Ludwig Hoffmann (1731 in Rheda bis 1807 in Eltville) als Landphysikus an mit der Aufgabe, das Medizinalwesen im Erzbistum Köln und Bistum Münster zu reformieren. Zwar hatten auch frühere Landesherren verschiedentlich Medizinalordnungen für das Münsterland erlassen, aber die beklagenswerten Zustände kaum bessern können. Studierte Ärzte waren nach Hoffmanns Darstellung nur selten zu finden bzw. besaßen nur geringe Kenntnisse. So waren seiner Meinung nach die Landesbewohner auf die zahlreichen Kurpfuscher angewiesen. Nach seiner Darstellung konnten die Wundärzte nicht mehr als einen Bart scheren, ein Pflaster schmieren, einen Abszess öffnen und ein gebrochenes Glied schienen. Von der menschlichen Anatomie wüssten sie nicht mehr „als ein Metzger von den inwendigen Theilen des Viehs“. Hoffmanns praktische Begabung zeigte sich in der Art, wie er in Münster die Chirurgen mit anatomischen Kenntnissen vertraut zu machen suchte. Zu diesem Zweck besorgte er sich im Mai 1765 die Leiche eines auf dem Markt zu Münster gehenkten Verbrechers und zergliederte sie vor den Wundärzten. Hoffmann selbst meinte, dass es vermutlich die erste Sektion in Münster gewesen sei.
Harngucker und Scharlatane gab es genug wie so genannte Kurpfuscher
Hoffmann schrieb eine für beide Bistümer gültige Medizinalverordnung mit harten Vorschriften, durch die er versuchte, die durch Kurpfuscher und Scharlatane in schlechten Ruf gebrachte Standesehre der Ärzteschaft wieder herzustellen. Tenor der Verordnung war, den Patienten vor dem Heilpraktiker und seinen falschen Methoden zu schützen: „Es ist besser, dass ein und anderer Arzt geprüft werde, als dass das Publikum leide.“ Die letzten Abschnitte seines Gesetzeswerks widmete Hoffmann den Harnärzten. Hierbei wird noch einmal sein unerbittlicher Kampf gegen Betrüger sichtbar. War vordem die Harnschau eine der wichtigsten Tätigkeiten des Arztes, so galt sie den Aufklärern als Betrug. Die Medizinalordnung verbot dem Arzt ausdrücklich, für das „Harnsehen“ ein Honorar zu fordern. Hoffmann selbst bot jedem „Harnkucker“ (sic!), der aus dem Urin ersehen konnte, ob er von einem Mann oder einer Frau stammt, ob die Frau schwanger oder nicht schwanger ist, 10 Taler und schloss diese Ausführungen mit dem Satz: „Jetzt auf, ihr Harnkucker, wenn ihr nicht Betrüger seyd, auf! kommet und holet Geld!“
Nur einer hatte eine ordentliche Approbation im Vest Recklinghausen
Kurfürstliche Medizinalbeamte untersuchten die Wirkung der verordneten Maßnahmen auf ihren Erfolg hin. Sie kritisierten ungeeignete Kuren ebenso wie übertriebene Rechnungen der Heilpraktiker. 1774 forderte der kölnisch-kurfürstliche Medizinalrat aus Bonn (eine Art Gesundheitsminister der Regierung) den vestischen Statthalter auf, ihm einen Bericht über die im Vest tätigen Ärzte, Wundärzte und Hebammen zu schicken. Auch wollte er wissen, welche Fähigkeiten, Ausbildung, welches Betragen sie hatten und welcher Art ihre Approbation war.
Aus dem Bericht des Statthalters geht hervor, dass damals 18 Personen im Vest Recklinghausen eine ärztliche Tätigkeit ausübten. Von diesen hatte nur ein Mann namens Mechalides aus Dorsten eine ordentliche Approbation vom kurfürstlichen Medizinalrat in Bonn, die auf sechs Jahre ausgestellt war. Der weitaus größere Teil der „Mediziner“ hatte lediglich ein Erlaubnisschreiben des Landphysikus Eick aus Recklinghausen. Diese waren namentlich genannt: Mert in Dorsten, Söries, Mackeln, der ältere und jüngere Schulz, der ältere und jüngere Krane, Rolef, Serres und Dahl in Recklinghausen, Westner in Horneburg, Fleitmann in Waltrop, Hüsch in Gladbeck, Becker in Buer, Kruse in Osterfeld und Herten und Güzlow in Datteln.
Auf Anordnung des Statthalters mussten alle diese Personen neu geprüft werden. Becker aus Buer ging zur Prüfung nach Bonn und erhielt die Erlaubnis zur weiteren Tätigkeit als Wundarzt. Allen übrigen wurden die Erlaubnisscheine entzogen, weil die vom Landphysikus Eick ausgestellten Erlaubnisse fehlerhaft waren. Unter den entlassenen Heilpraktikern waren auch solche unwissenden Leute, die nicht einmal ihren Namen schreiben konnten. Hier sei an die Lied-Verse erinnert, die über den in Preußen tätigen Kurpfuscher Eisenbart zirkulierten und damit wohl alle damaligen Kurpfuscher gemeint waren:
„Ich bin der Doctor Eisenbart,
Kurier’ die Leut’ nach meiner Art,
Kann machen, dass die Blinden gehn
Und dass die Lahmen wieder sehn ….“
Landphysikus Eick hatte den vestischen Heilern die Erlaubnis unter der Bedingung ausgestellt, dass sie in schweren Fällen „sich, wie es einem ehrliebenden Chirurg zusteht, nicht ohne Zuziehung oder auch geschehener Beratschlagung anderer Werkverständiger, oder auch Medicorum“ einlassen sollten. Dennoch wurde dem Landphysikus für alle Zeiten verboten, weitere Erlaubnisscheine auszustellen. Alle irgendwie medizinisch Tätigen mussten sich einer Prüfung unterziehen, was zur Folge hatte, dass den meisten die Erlaubnis entzogen wurde. Um das Land nicht gänzlich von Wundärzten zu entblößen, wurde einigen besser Qualifizierten die chirurgische Praxis erlaubt. Trotz dieser Maßnahmen dauerte das Elend im Gesundheitsdienst im Vest an. Es fehlten geschickte Ärzte. Überall wurden von Ärzten Menschen zu Krüppeln gemacht oder wegen falscher Behandlung sogar getötet. Dass zu jener Zeit noch Schinder (Folterknechte) und Scharfrichter den Vorzug und das Privileg hatten, nebenher Heilpraktiker zu sein, war weit verbreitet.
Die Heilkunst der Scharfrichter war trotz Verbotes lange gefragt
Trotz vieler Verordnungen gegen diese Tradition, war die Heilkunst der Scharfrichter noch lange Zeit gefragt. Der Verkauf von Menschenfett und ähnlichen gewonnenen Körperextrakten war noch im 18. Jahrhundert üblich. Berüchtigt unter den Heilpraktikern ohne Vorbildung war ein Mann namens Eveking, der in Polsum nahe dem heutigen Dorsten wohnte und unter dem Namen Dr. Olfs Jann bekannt war. Er trieb sein Unwesen so weit, dass er sich für 300 Taler Arzneien auf einmal von Thüringer Arzneikrämern schicken ließ. Scharenweise hatte er Patienten, weil er mit jedem Branntwein trank und ihnen danach aus ihrem Urin die Krankheiten erklärte. Selbst Pfarrer und Beamte waren seine Patienten und hielten schützend ihre Hand über ihn.
Im Jahre 1790 wurde der Stadtarzt von Recklinghausen damit beauftragt, den Umtrieben von Pfuschern ein Ende zu bereiten. Manche von ihnen erhielten Strafen, die auf 30 Taler festgelegt waren. Scharfrichter und Schindern wurde das Heilen verboten. Der Stadtarzt widmete sich nun auch den Umtrieben des Eveking und durchsuchte mit Hilfe von Schützen dessen Haus in Polsum, beschlagnahmte Bücher und Tinkturen und bestrafte ihn mit 30 Talern und mit der Bezahlung der Untersuchungskosten. Schließlich wurde Eveking das Pfuschen bei Androhung von Zuchthausstrafe verboten. Doch Eveking machte weiter, wurde zu einer dreiwöchigen Gefängnishaft verurteilt. Vier Schützen brachten ihn von Polsum in das Dorstener Rathaus (Alten Rathaus am Markt), wo er in einer Zelle im Keller die Strafe absitzen musste. Nach seiner Entlassung ging er wieder seinem „Heilberuf“ nach, diesmal betrieb er ihn geheim. Jeder von ihm behandelte Patient musste Stillschweigen schwören und beeiden, dass er ihn nicht vor Gericht bringen werde.
Weil es kein Zuchthaus gab, wurde die Strafe ausgesetzt
Die Bevölkerung sah die behördliche Verfolgung ihres „Arztes Eveking“ mit Unwillen. Für Eveking wurden Bittgesuche an den Kurfürsten geschrieben. Selbst angesehene Pfarrer beteiligten sich daran. Daraufhin wurde Eveking nicht mit Zuchthaus bestraft, sondern zum Militärdienst verurteilt. Wegen Untauglichkeit kam er schon nach wenigen Wochen wieder frei und wurde nun zu einer Zuchthausstrafe verurteilt. Da es aber im Vest kein Zuchthaus gab, wurde die Strafe ausgesetzt, was Eveking nutzte, wieder als Heilpraktiker tätig zu werden, was nicht unentdeckt blieb. Er musste außer Landes fliehen. Ein hochrangiger Geistlicher bat wiederholt um Gnade für den renitenten Pfuscher. 1799 wurde er vom Kurfürsten bedingt begnadigt und arbeitete fortan wieder als Sattler. Das Gewerbe hatte er jahrelang nicht mehr ausgeübt.
Die Kurfürstliche Regierung überwachte nun strenger die Mediziner im Vest. Dem Chirurgen Becker aus Buer starb eine Erstgebärende trotz des frühzeitig herbeigerufenen Dr. Devens aus Essen. Trotzdem Becker als angesehener Heilkundiger im Vest galt, wurde er zu 30 Talern Strafe verurteilt und ihm bei Zuchthausstrafe die Ausübung der Geburtshilfe verboten. So schritt die kurfürstliche Landesregierung immer strikter gegen Kurpfuscher ein. Verdächtige wurden sofort gemeldet. Aber erst die französische Zeit brachte durch eine grundlegende Neuordnung eine wirkliche Besserung des Medizinalsystems, dass durch die darauf folgenden Preußen weiter ausgebaut wurde.