Schlesischer Geigenbauer von Ruf starb 1980 in Hervest-Dorsten
1882 in Ober-Stephansdorf/Oberschlesien bis 1980 in Dorsten; Lehrer und Geigenbauer. – „Haben Sie eine Loessel?“, „Loessel zu verkaufen!“ oder „Suche Loessel!“ Wer nichts mit Geigen zu tun hat, wird nicht verstehen, was damit auf dem Musikalien-Anzeigenmarkt, im Internet-Verkaufsmarkt oder bei Musikinstrumenten-Auktionen gemeint ist. „Loessel“ sind Meistergeigen, die von Georg Loessel in Hervest-Dorsten am Kapellenweg hergestellt worden sind: Im Laufe seines Lebens waren dies 205 Geigen, sechs Bratschen und ein Cello. Wer mehr über Meister Loessel wissen will, kann in der „Enzyklopädie des Geigenbauers. Die österreichischen und deutschen Geigenbauer“ des tschechischen Autors Karel Javolec nachlesen, die 1967 erschienen ist. Das Buch wird bereits auf Auktionen für 100 bis 200 Dollar gehandelt. Georg Loessels Geigen zwischen 3.500 und 5.000 Euro.
Als Heimatvertriebener zuerst in die Ostzone
Georg Loessel dürfte etlichen Dorstener Schulkindern der Nachkriegszeit nicht als Geigenbauer in Erinnerung sein, sondern als Lehrer der St. Agatha-Schule in den Jahren 1946/47. Danach wurde er pensioniert. Lehrer war er schon immer, das war sein Hauptberuf. Auch in Schlesien, wo er herstammt und Rektor einer Schule war. Als Heimatvertriebener kam er bei Kriegsende zuerst in die damalige Ostzone, dann wurde ihm Dorsten als zukünftiger Wohnsitz zugewiesen. Nach seiner Pensionierung widmete er sich wieder dem Geigenbau, den er in seiner schlesischen Heimat neben seinem Lehrberuf erlernt hatte. Im Wohnzimmer fing er damit an und hatte bald eine kleine Werkstatt, in der seine vortrefflichen Instrumente entstanden waren.
Er baute die Amati-Geige seines Urur-Großvaters nach
Sein Geburtsort Ober-Stephansdorf liegt auf halbem Wege zwischen Breslau und Liegnitz in der Grafschaft Glaz. Dort gab es ein herrschaftliches Gut der Grafen von Schweinitz, bei dem Georg Loessels 1764 aus Böhmen zugewanderter Urur-Großvater, Philipp Loessel, als Hausmusiklehrer und gleichzeitig Dorfschullehrer und Organist in der Dorfkirche angestellt war. Aus Böhmen brachte sein Urur-Großvater eine Geige und mehrere Querpfeifen mit und nannte sich „Querpfeifer und Musikantikus“. Als er 1807 starb, erbte Georg Loessels Großonkel, Schneidermeister Johann Loessel, die Geige. Er bot sie dem Kantor Menzel an, der sie für zehn Taler kaufte und dem Geigenbaumeister Liebig in Breslau zur Reparatur brachte. Dieser erkannte sofort, dass er eine echte „Amati“ in Händen hielt. Der Geigenzettel lautete: „Nicolaus Amatus Cremonen Hieronymus/Fil. ac Antoniy Nepos fecit 1675“. Kantor Menzel vererbte die Geige seinem Sohn in Bunzlau. Zu ihm ging Georg Loessel, fotografierte die einst seinem Urur-Großvater gehörende Geige, die heute einen Wert von rund 70.000 Euro hätte, von allen Seiten und hütete die Fotos. Die Geige selbst ging 1945 verloren, die Fotos brachte Loessel mit nach Dorsten. Georg Loessel war im Schuldienst tätig und leitete eine Schule. Nebenbei ließ er sich in Breslau im Geigenbau unterweisen. Dann baute er nach den Fotos die Amati-Geige seines Urur-Großvaters nach. Georg Loessel eignete sich mit der Zeit praktische und theoretische Kenntnisse an, veröffentlichte eine Schrift, in der er die 15 Geigenbauer seiner Heimatregion unter dem Titel „Die Geigenbauer der Grafschaft Glaz“ darstellte. 1924 legte der Schullehrer vor der Innungs-Prüfungskommission zu Breslau die Meisterprüfung im Geigenbau ab. Zu Beginn der nationalsozialistischen Zeit wurde Georg Loessel vorübergehend vom Schuldienst beurlaubt, weil er als Vorsitzender des Zentrums der NS-Ideologie widerstand. Aus Entnazifizierungsunterlagen geht hervor, dass er 1933 „Reichskanzler Hitler“ beleidigte und am 9. September 1933 wegen staatsfeindlicher Betätigung in Schutzhaft genommen wurde (Entnazifizierungsakte Landesarchiv Düsseldorf, Ord.-Nr. 516). Er überlebte existentiell, weil er in den umliegenden Orten vornehmlich Schul- und Kirchengeigen reparieren konnte.
Im Westen fing er wieder an, Geigen zu bauen
Nach seiner Übersiedlung in den Westen und Pensionierung als Lehrer in Dorsten fing der Heimatvertriebene wieder an, Geigen zu bauen. Einerseits richtete er sich nach den Fotos der Geige seines Urur-Großvaters, andererseits lehnte er sich in der Gestaltung seiner Meistergeigen an den italienischen Geigenbauer Stradivari (1643 bis 1737) an. Seine Frau starb bereits 1965. Mit Georg Loessel starb 1980 vielleicht der letzte schlesische Geigenbauer von Ruf, dessen Leben als Dorfschullehrer in Ober-Stephansdorf begann und 98-jährig in Hervest-Dorsten endete.