Lehnert, Engelbert

Der „unheimliche Waldmensch“ lebte 39 Jahr lang scheu in der Einsamkeit

Grabstein Lehnerts

Grab und Grabstein an der Michaeliskapelle in Lembeck; Foto Wolf Stegemann

1889 in Heiden bis 1964 in Lembeck; Waldmensch. – Schwarz und ungeschoren sein Bart, Gesicht und Hände vor Schmutz starrend und dunkel verfärbt, war er eine Erscheinung, der man nicht gerade Vertrauen entgegenbringen konnte. Alles, was er besaß, trug er auf dem Leib, manchmal bis zu sieben Hosen und Jacken, die keine Knöpfe mehr hatten und mit Draht zusammengehalten wurden. Doch Engelbert Lehnert, der 39 Jahre lang in den Wäldern der Herrlichkeit lebte, war weder ein Unhold noch ein Kinderschreck. Er war psychisch schwer krank. Er konnte nicht Tritt fassen in der menschlichen Gesellschaft, in die er am 26. Dezember 1889 in Heiden hineingeboren wurde. Daher lebte er von den Gaben der Bauern. Diese Art von Leben brachte ihm zweifelhafte Berühmtheit ein. „Schwarzer Engelbert des Münsterlandes“, „Geheimnisvoller Waldmensch“, „Der Unheimliche aus den Wäldern“ titelten die Medien.

Schon als Schüler wurde er immer scheuer und redete nicht mit Fremden

Sein Elternhaus stand am Dorfrand von Heiden. Mehrere Morgen Acker und Weide sowie drei Kühe im Stall und das übliche Kleinvieh gehörten dazu. Der ursprüngliche Familienname Evers wurde nach dem Tod des Vaters in Lehnert geändert, als die Witwe einen Lehnert heiratete. Er war Tagelöhner. Die Arbeit im Stall und auf den Äckern oblag der Mutter und den Kindern. Zu den älteren Geschwistern hatte der Junge Engelbert wenig Kontakt, da sie zu alt waren, um mit ihm zu spielen. Franz Hüls, Pfarrer i. R., in seiner Broschüre über die Lebensgeschichte Engelbert Lehnerts: „So wuchs Engelbert schon als kleines Kind einsam auf, aber nur so lange, bis die Mutter ihn auch für kleine Arbeiten heranziehen könnte. Aber die Mutter, eine nicht gerade zart besaitete Person, hatte dann für die kindlichen Leistungen oft mehr Tadel als Anerkennung und Lob.“ Zudem gab es auch Schläge. In der Schule zog sich Engelbert Lehnert von den anderen Kindern scheu zurück. Als 12-Jähriger arbeitete er dann schon in den Ställen des Bauernhofs Finke-Stölle, war weiterhin wortkarg und redete nicht mit Fremden, arbeitete dann auf einem Hof in Marbeck, dann auf  dem Hof Schulte Kellinghaus, wo er elf Jahre blieb.

Er zog wie ein Landstreicher von Bauernhof zu Bauernhof

1914 brach der Erste Weltkrieg aus. In der Befürchtung, eingezogen zu werden, verließ Engelbert Lehnert 1917 sein Elternhaus und verschwand. Er war einfach nicht mehr da. Man nahm an, dass er auf die Walz gegangen war, was irgendwie auch stimmte. Er besuchte Bauernhöfe im Münsterland, arbeitete und verschwand dann wieder. Es war immer noch Krieg und nach unseren heutigen Begriffen war Engelbert Lehnert durch sein Verschwinden „Wehrdienstverweigerer“, damals aber ohne schützendes Gesetz. Hätten Behörden ihn entdeckt, wäre er vor ein Kriegsgericht gekommen. Wo er in den letzten Kriegjahren abgeblieben ist, ist nicht bekannt. Bei Kriegende im November 1918 tauchte er abgerissen und in verwildertem Zustand auf dem Bauernhof Finke-Stölle wieder auf. Er arbeitete auf dem Hof, verschwand im Januar 1919 und suchte mehrere einsam gelegene Bauernhöfe mit den Worten „Bottram kriegen“ auf. Kurzzeitig stand er wegen seines Aussehens unter dem Verdacht, im Sommer 1913 einer Bande angehört zu haben, die zwischen Dorsten, Borken, Coesfeld und Haltern mit Einbrüchen und Raubüberfällen die Gegend unsicher gemacht hatte. Wenn Engelbert Lehnert wieder zu einem anderen Bauernhof zog, um sich dort aufzuhalten und zu arbeiten, ließ er meist aus dem Bauernhof etwas „mitgehen“. Mal ein Werkzeug, mal bessere Holzschuhe, mal ein Kleidungsstück. Das nahm man Lehnert aber nicht übel. Auch nicht, als er einem Bauern die Jacke entwendete, in der dessen Führerschein steckte. Die Polizei fand ihn nicht mehr, der Führerschein war weg. Auch wenn Engelbert Lehnert bettelnd als Landstreicher übers Land zog, er war nie dieser Landstreicher und Bettler, sondern der eigentümliche menschenscheue „Engelbert“, den man in seiner Waldeinsamkeit akzeptierte.

Auch in der NS-Zeit konnte er sich den Behörden entziehen

1933 wurde es für ihn kritisch. Engelbert Lehnert war nirgendwo behördlich erfasst. Hätte man ihn irgendwann erwischt und überprüft, wäre er sicherlich in ein Arbeitslager eingewiesen worden. Doch dazu kam es nicht, denn er wurde von den Menschen vor behördlicher Entdeckung geschützt. So verbrachte Engelbert Lehnert die Jahre und den Zweiten Weltkrieg, den er in den Wäldern überlebte. Im ersten Kriegsjahr sah er die Flugzeuge, die über sein Gebiet zum Angriff nach Holland flogen, in den nächsten Jahren waren es Brände. Welche Ängste Engelbert in den Bombennächten ausgestanden haben mag, weiß niemand. Als er 1945 auf einem Bauernhof einen englischen Soldaten sah, rannte er weg und ward lange nicht mehr gesehen. Dann lebte er wider nach seiner alten Gewohnheit. Er arbeitete gelegentlich auf Bauernhöfen vornehmlich in Leblich, Reken und Wessendorf, aber auch in entfernteren Gebieten in Flamschen, Borkenwirthe bis nach Velen. Überall war er als „Engelbert“ bekannt. So trieb ihn sein unstetes und psychisch krankes Wesen zehn Jahre lang durch die Wälder. Er fand Arbeit und Essen auf den Bauernhöfen und Unterkunft in Scheunen, Strohmieten und Mauseschoppen. Im zunehmenden Alter spürte er immer mehr die Beschwerlichkeit seines Waldlebens.

1956 beinahe verbrannt, 1964 von einem Auto tödlich angefahren

Im langen und harten Winter 1956 wäre er bei 20 Grad unter Null fast gestorben. Beim Anheizen des Futterkessels fing seine Kleidung Feuer. Er wurde entdeckt, als sich der mittlerweile 67-Jährige  am frühen Fastnachtsmorgen auf dem Hof des Bauern Kleine Sender in brennenden Kleidern im Schnee wälzte. „In aller Eile befreiten sie ihn von den im Schwelbrand glühenden siebenfach dicken Kleidungsstücken. Engelbert wimmerte nur noch. Er ist furchtbar verbrannt, besonders stark am linken Oberschenkel.“ Engelbert kam ins Lembecker Krankenhaus (damals Michaelisstift)  in Obhut des Arztes Dr. Geisthövel und der resoluten Schwester Herma. Nach einiger Zeit bezog er dort eine einfache Kammer. Es dauerte Monate, bis Engelbert Lehnert wieder gesund war. Er blieb – verschlossen und wortkarg. 38 Jahre lang war er bei keiner Behörde registriert. Jetzt kümmerte sich finanziell das Sozialamt um ihn. Fragte ihn jemand nach seinem Waldleben, wurde er zornig, drohte mit der Faust und wandte sich ab. An einem Wintertag, es war der 1. Dezember 1964, wurde er in der Abenddämmerung von einem Auto angefahren. Schwer verletzt kam er ins Krankenhaus. „Mir fehlt nicks. Ik heb bloß de Beene tebrocken.“ Doch am 8. Dezember endete die ungewöhnliche Lebensgeschichte Engelbert Lehnerts. Eine große Trauergemeinde, darunter auch sein Bruder Alois und seine Schwester, gab ihm in Lembeck das letzte Geleit.


Quellen: Broschüre „Bottram kriegen – Engelbert Lehnert, Lebensgeschichte des Waldmenschen. Er lebte 39 Jahre in unseren Wälder“ von Pfarrer i. R. Franz Hüls nach Unterlagen von Dieter Rehs, hgg. 2021 von Pastor i. R. Volker Bauer. – Totenzettel 1964.

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