Früher bekannter Holsterhausener Turn-Sportler geriet in Vergessenheit
Von Wolf Stegemann – Wären die Sieger-Urkunden aus den zwanziger Jahren von seiner in Bayern lebenden Tochter Walburga nicht aufgehoben worden wären, und hätten die Dokumente eines umfassenden Sportlerlebens über 30 Jahre nach dem Tod des Sportlers nicht den Weg von Nürnberg nach Holsterhausen zurückgefunden, dann wären er und seine frühen Sporterfolge in Holsterhausen weiterhin in Vergessenheit geblieben sein. Die Rede ist von dem Bergmann Alfred Kistowski, älteren Holsterhausenern aus der Freiheitsstraße sicher noch bekannt, der als ein hervorragender und vielseitiger Turner Pokale und Urkunden holte.
Wie gesagt: dies alles läge weiterhin im Dunkel, hätte nicht Heidi Heubeck, angeheiratete Enkelin von Alfred Kistowski aus dem kleinen oberpfälzischen Städtchen Neumarkt, die Idee gehabt, die Urkunden, die ihre Schwiegermutter Walburga Heubeck aus Nürnberg, einzige Tochter von Alfred Kistowski, aufbewahrte, dem Ökumenischen Geschichtskreis Holsterhausen zu überlassen. Es sind 16 im Stil der zwanziger Jahre bunt gestaltete farbige Sieger-Urkunden, die der vielseitige Sportler Alfred Kistowski auf vestischen und westfälischen Sportfesten erkämpft hatte. Der Verfasser besuchte die Tochter Alfred Kistowskis in Nürnberg und die angeheiratete Enkeltochter Heidi Heubeck in Berg bei Neumarkt in der Oberpfalz und brachte deren Erinnerungen nach Holsterhausen zurück.
In der Familie gab und gibt es etliche Angehörige mit dem Namen Alfred
Hilfreich war dabei ein dickes Fotoalbum, in das Bilder der Familien Kistowski und Senftleben sowie der dazugehörigen Verwandtschaft eingeklebt sind. Alfred Viktor Kistowski war mit Ella Martha Wilhelmine Senftleben aus Holsterhausen verheiratet. Immer dann, wenn im Gespräch der Name Alfred fiel, musste Heidi Heubeck schmunzeln: „Ich bin nur von Alfreds umgeben!“ sagte sie. „Mein Mann heißt Alfred, mein Schwiegervater hieß Alfred, mein Opa hieß Alfred!“ Die notwendigen Fakten und Daten zu Alfred Kistowski hatte ihre Schwiegermutter, die Tochter Kistowskis, in einer Mappe mit standesamtlichen Unterlagen bereitgelegt, so dass Geburts-, Hochzeits- und Sterbedaten schnell herausgefunden und die anfangs etwas verworren anmutenden Verwandtschaftsverhältnisse rasch geklärt werden konnten.
Die Frau des Pfarrers sang zur Trauung der Tochter ein Lied
Dessen Tochter Walburga wurde 1924 in Holsterhausen geboren und getauft, ging auf die Wilhelmschule des Lehrers Nölle und hatte Freundinnen in der Freiheitsstraße wie beispielsweise Hildegard Zeglin. Walburga Heubeck geborene Kistowski erinnert sich daran, wie ihre Großmutter Maria Martha hinterm Haus den Hühnern des Kopf abgehauen hatte, wie sie von Pfarrer Ernst Krüsmann in der Martin-Luther-Kirche konfirmiert wurde, und wie sie als 14-Jährige Holsterhausen verließ, um bei Uelzen 1938/39 ihr „Pflichtjahr“ in einem Büro abzuleisten. Danach ging sie nach Wulfen, arbeitete in einem Lebensmittelgeschäft und wurde im Krieg zusammen mit ihrer Freundin Thea Brilon Flakhelferin. Als solche lernte sie ihren Mann wie in einer filmreifen Szene kennen: „Ich war Luftwaffenhelferin in Wulfen. Unser Flak-Stab war in einer Schule untergebracht, dessen Dielenbretter gerade frisch eingeölt waren und furchtbar gestunken haben. Da betrat ein schneidiger Fähnrich mit blank geputzten Stiefeln das Kartenzimmer, rutschte auf dem glatten Bretterboden aus, wedelte mit den Armen in der Luft, um sein Gleichgewicht zu halten, fiel dann aber der Länge nach hin. Seine Militärmütze rollte bis zur Wand. Ich erschrak heftig, ging auf den am Boden Liegenden zu, um ihm aufzuhelfen, da rutschte ich ebenfalls aus und fiel auf ihn drauf! Danach habe ich mich tagelang sehr geniert!“ Die 84-jährige Witwe lacht, als sie sich an diese Begebenheit erinnerte. Weihnachten 1944 hat sich Walburga Kistowski mit ihrem so unsanft kennengelernten Soldaten und im Zivilleben als Studienrat tätigen Dr. phil. Alfred Heubeck, im Hause Kistowski in der Straße der damaligen „Straße der SA“ Nr. 30 in Holsterhausen verlobt. Im Februar heiratete der inzwischen zum Leutnant beförderte Flaksoldat seine Walburga, die Flakhelferin. Da der Holsterhausener Pfarrer Ernst Krüsmann zum Militär eingezogen war, wurde das Paar kirchlich vom Militärpfarrer, einem Major des Flakregiments, in der Martin-Luther-Kirche getraut. „Frau Krüsmann sang zu unserer Trauung ein Lied“, erinnert sich Walburga Heubeck. Das Hochzeitspaar zog danach nach Nürnberg in die Gunterstraße, wo die Witwe heute noch lebt.
Die Kistowskis waren mit vielen Bergarbeiter-Familien verwandt
Walburga Heubeck erinnert sich gerne an ihren Vater Alfred Kistowski, der zuerst auf der Zeche Baldur in Holsterhausen, dann im Wasserwerk und danach bis zur Rente auf der Zeche Fürst Leopold arbeitete. Der Vater hatte viele Geschwister. „Da gab es eine Tante Wanda, eine Tante Maria, eine Tante Emilie, einen Onkel Jupp, einen Onkel Adolf, eine Tante Lisbeth. Als Walburga fünf Jahre alt war, nahm ihr Vater sie mit auf die Sportplätze und ins Strandbad. „Auf dem Sportplatz durfte ich immer auf den Schultern von Freunden meines Vaters sitzen, wenn er auf dem Rasen turnte. Mein Vater war ein herzensguter Mann“, schwärmt sie, „meine Mutter hingegen war sehr streng.“ Aber sie hat sich mittlerweile als Mutter von zwei eigenen Kindern mit ihrer Mutter versöhnt. „Einer der Eltern muss ja strenger sein, wenn der andere Elternteil alles durchgehen lässt“, sagt sie.
Viel mehr ist über das Leben des Sportlers Alfred Kistowski auch in seiner Familie nicht bekannt. Er wurde am 6. März 1901 in Hamborn (jetzt Duisburg) geboren, heiratete am 21. Oktober 1922 in Holsterhausen Ella Martha Wilhelmina Senftleben, ebenfalls aus Holsterhausen, die 1903 in Altenessen geboren wurde. 1924 wurde ihr einziges Kind Walburga geboren. Kistowskis Eltern kamen aus Polen. Sein Vater Alfred Viktor Kistowski war noch katholisch und von Beruf Colporteur. Er war verheiratet mit Maria Porwol aus Hamborn. Die Eltern seiner Frau waren Georg Albert Senftleben aus Lissa und Maria Martha Senftleben geborene Heimann aus Marktlissa, Kreis Lauban. Außer den bereits genannten Familien sind viele bekannte Bergarbeiter-Familien in Holsterhausen mit Kistowskis verwandtschaftlich verbunden: Frommelt, Kladzik, Weber, Kiermanscheck, Föcker, Löns, Stellmascheck, Mühleis, Schortemeier.
Sieger-Urkunden Kistowskis geben auch soziohistorische Einblicke
Die Urkunden haben nicht nur eine lokalhistorische, sondern darüber hinaus auch eine soziohistorische Bedeutung. Die auf den Urkunden abgebildeten schmuckvollen Darstellungen geben Einblick in die wirtschaftlich schlechten 1920er-Jahre, in denen dem Sport eine große Rolle zukam. Die „Goldenen Zwanziger“ waren nur für einige golden. Mit dem Sieg im Sport und mit Sport allgemein, auch wenn er nur auf den Sportplätzen in der Herrlichkeit Lembeck ausgetragen wurde, verband man nationales Heldentum. Sportsieger wurden zu Helden gekrönt in einer Zeit, in der die Nation nach dem verlorenen Weltkrieg Kriegshelden zu Gigolos wurden und Deutschland politisch, wirtschaftlich und militärisch darniederlag. Im Ruhrgebiet erschwerte zudem die Besetzung durch Belgier und Franzosen die Organisation überregionaler Sportveranstaltungen.
Entsprechend dem Heldenmythos sind die Urkunden gestaltet. Sie zeigen junge vornehme Damen, die, weiß und leicht gekleidet, den Lorbeerzweig halten, als hätten sie ein Schwert in Händen wie einst die bronzene Kriegsdame „Germania“. Schon im Kaiserreich wurde der Sport „germanisiert“, was danach beibehalten wurde. Dann sind nackte Athleten zu sehen, die vor einer tempelartigen Architektur mit Göttin trainieren. Auf einer anderen Urkunde hält eine langmähnige Dame, deren Körper mit leichtem, wallenden Stoff verhüllt ist, den Lorbeerkranz in Händen, um ihn dem Sieger zu überreichen. Aus einem daneben stehenden Löwenkopf fließt Wasser in einen Brunnen. Auf allen diesen Urkunden ist der Name Alfred Kistowski zu lesen: Er gewinnt den 1. Preis im Diskuswerfen, im Steinstoßen, im Aufmarsch, im Vierkampf/Fünfkampf, dann im Hochsprung, im Schleuderball, im Stabhochsprung und als 20-Jähriger (!) im „Vierkampf für Senioren“. Nicht alle Urkunden der Jahre 1920 bis 1926 sind bei Herrlichkeits-Sportfesten errungen worden, wenn auch die meisten. Kistowski war auch Sieger bei Sportfesten des Turnvereins „Kaiser Wilhelm“ in Marl-Sinsen, beim Turnclub „Germania“ in Drewer und beim Stiftungsfest des Turnerbundes „Grüne Eiche“ in Marl. In Holsterhausen gab es damals die durchaus auch parteipolitisch beeinflussten Sportvereine wie „Deutsche Jugend Kraft“ und „Deutsche Eiche“. Alfred Kistowski fungierte in Holsterhausen als Oberturnwart. Der Sportplatz, den er betreute, lag an der Lippe.
Glückwünsche der Stadtspitze zur Goldenen Hochzeit
Zur Goldenen Hochzeit schickten Bürgermeister Hans Lampen und Stadtdirektor Dr. Karl-Christian Zahn dem Jubelpaar Kistowski 1972 eine Glückwunsch-Urkunde der Stadt Dorsten. Vier Jahre später starb Alfred Kistowski in Bottrop, seine Frau 1981. Die Grabstätten auf dem Waldfriedhof in Bottrop sind mittlerweile eingeebnet.