155 Tage moralischer Schutz hinter den Kirchenmauern von St. Antonius
Ralph Wilms überschrieb seine Geschichte in der WAZ über das Kirchenasyl der kongolesischen Familie Mfebe, das ihr das katholische Dekanat Dorsten gab, mit „Ein Kapitel der Stadtgeschichte“. In der Tat war es das erste und einzige Kirchenasyl in Dorsten, das nach 155 Tagen für die von Abschiebung bedrohter Familie glücklich ausgegangen war.
Das Kirchenasyl begann am 8. August 1999 in der Sakristei der Antoniuskirche in Holsterhausen. Wenn es auch rechtlich keinen Schutz geboten hätte, hätten sich die Behörden durch das Kirchenasyl nicht aufhalten lassen, Makila Mfebe, seine Frau Eveline Iwanda Imbie und die drei Kinder Blandine, Alice und Gedeon abzuschieben, moralisch bot das Asyl in der Kirche Schutz.
Drei Kirchengemeinden gaben Schutz
Asyl hinter Kirchenmauern bedeute immer auch Gefahr des polizeilichen Eingreifens. Daher organisierten die Helfer von drei Kirchengemeinden den Tagesablauf. Alle zwei Stunden lösten sich Gemeindemitglieder in der Präsenz ab. Für die zehnjährige Blanine wurde in der Kirchen „Schulunterricht“ organisiert, da man befürchten musste, dass das Kind, wenn es weiter zur Pestalozzischule gegangen wäre, von den Behörden abgefangen und in den von Bürgerkriegen verheerten Kongo abgeschoben oder aber als Druckmittel gegen die Eltern in der Kirche benutzt worden wäre. 155 Tage Kirchenasyl, das ihnen das katholische Dekanat seit dem 8. November 1999 gewährte, rettete die Familie davor, in den von Diktatoren und Bürgerkriegen verheerten Kongo abgeschoben zu werden. Acht Jahre nach dieser dramatischen Vorweihnachtszeit fand Familie Mfebe jetzt in Essen ein neues Zuhause.
Einzigartiges Zeichen der Solidarität in Dorsten
Der „Rechtsbruch“ des Kirchenasyls (Stadtdechant Ludger Ernsting) sorgte in Dorsten für bisher einzigartige Zeichen der Solidarität: Fast 3500 Dorstener unterzeichneten die Petition für ein Bleiberecht der Familie Mfebe; der Rat der Stadt verabschiedete eine Resolution mit dem gleichen Ziel. Der Petitionsausschuss des Landes votierte einstimmig zugunsten der Familie. Weihbischof Dr. Josef Voss, erfahren als Migrationsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz, sprach mit den Eltern Mfebe und ihren Betreuern. Und Hans Koschnick, Bremens langjähriger Bürgermeister, sagte als Gast in St. Antonius klipp und klar, was von diplomatisch-schönfärberischen „Lageberichten“ des Auswärtigen Amtes aus Kongo zu halten sei: nämlich nichts. „Unser Botschaftspersonal informiert sich an der Hotelbar. Die wagen doch keinen Schritt aus der Hauptstadt heraus.“
Während Baby Gedeon im Pfarrhaus das Laufen lernte, seine zwei Jahre ältere Schwester Alice den Kindergarten besuchte und sich Blandine neben der Schule ums Übersetzen für ihre Eltern bemühte – wendete schließlich das Nürnberger Bundesamt für Flüchtlinge das Schicksal der Mfebes. Es erkannte im Gesundheitszustand von Eveline Iwanda Imbie ein dauerhaftes „Abschiebehindernis“: Die Mutter der Familie sei immer wieder auf Intensivmedizin angewiesen, wie es sie selbst in der Hauptstadt von Kongo-Zaire nicht gebe. Wilms in der WAZ:
„Aber die Menschenrechts-Situation in diesem verheerten Land – in dem jede neue Tyrannei die vorherige noch an Brutalität zu übertreffen sucht – spielte und spielt keine Rolle mehr im komplizierten Verfahrensweg. Als Stadtdechant nannte Ludger Ernsting diesen eigentlichen Skandal wiederholt beim Namen – und stritt in Eingaben ans Innenministerium auch für einen generellen Abschiebestopp zugunsten von Flüchtlingen aus Kongo. Es blieb die für den Dorstener Helferkreis bittere Erkenntnis: Das Grundrecht auf Asyl ist gründlich ausgehöhlt. Der Verweis auf politische Verfolgung als der vermeintlich direkte Weg ist praktisch nicht mehr gangbar.“
Den Einsatz der Kirche und ihren Helfern würdigte der Dorstener Angela-Schneider-Fonds im Jahr 2000 mit einem Preisgeld eine Initiative, die im Konflikt mit der Stadt handelte. Nach Beendigung des Kirchenasyls und Aufhebung der Abschiebemaßnahmen gelang es der Familie nur langsam, in der Normalität eines ungefährdeten Alltags Fuß zu fassen. Doch es gelang vorzüglich. Acht Jahre später verließ die Familie Dorsten und nahm in Essen Wohnsitz.
Kirchenasyl: Aus und Amen
Geht es nach dem Bundesinnenminister, dann wird es in Zukunft kein Kirchenasyl mehr geben. Dies veröffentlichte er im Februar 2015. Flüchtlinge in Gotteshäusern sind für den Staat „untergetaucht“, obwohl der Aufenthaltsort bekannt ist. Für den Asylbewerber, dem von den Kirchen Asyl gewährt wird, gilt bislang dieser Schutz für die so genannten „Dublin-II“-Fälle, die nach geltendem Asylrecht zur Durchführung des Asylverfahrens in ein anderes EU-Staat abgeschoben werden sollen und sich dieser Abschiebung durch das Asyl in der Kirche entziehen. Denn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat die Tradition des Kirchenasyls bisher grundsätzlich respektiert, bewertet diese Praxis nun aber neu. Sie sind eben untergetaucht. Bislang konnte ein Asylbewerber nur innerhalb von sechs Monaten abgeschoben werden. Hielt er es in der Kirche so lange aus, konnte er nicht mehr abgeschoben werden. Jetzt ist diese Frist auf 18 Monate verlängert worden. Diese Zeit müssen nun Kirchengemeinden und Flüchtlinge miteinander ausharren, um eine Prüfung des Asylverfahrens in Deutschland zu erreichen. Das ist Schikane.
Seit dreißig Jahren ein Stachel im Fleisch staatlicher Asylpolitik
Die Kirchenasyl-Bewegung in Deutschland ist nun dreißig Jahre alt. Engagierte Kirchengemeinden haben in dieser Zeit einigen Tausend Flüchtlingen mit dem Evangelium „Ich war verfolgt, ihr habt mir Schutz gewährt“ Schutz gegeben und sie vor Abschiebung bewahrt – weil der Staat sich meist gescheut hat, die Flüchtlinge mit Gewalt aus Kirche und Pfarrhaus zu holen. Solche Rettung wird jetzt noch schwieriger, als die bisher war; sie wird womöglich unmöglich.
Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung schreibt, dass das Kirchenasyl seit dreißig Jahren ein Stachel im Fleisch staatlicher Asylpolitik sei. „Die Politik hat es zähneknirschend geduldet, dass Kirchengemeinden gegen Abschiebungen Widerstand leisteten. Bundesinnenminister haben immer wieder gedroht, einer sogar damit, Kirchenasyl mit Gewalt brechen zu lassen. Doch im Großen und Ganzen aber hat der Staat akzeptiert, was Kirchenasyl ist: Regulativ des Rechtsstaats auf der Suche nach Gerechtigkeit.“
Kirche ist kein rechtsfreier Raum, aber Kirchenasyl ist der legitime Versuch, durch befristeten Schutz Abschiebung abzuwenden und eine sorgfältige Prüfung eines Schutzbegehrens zu erreichen. Es ist eine Mahnung. Doch jetzt mag der Staat sich nicht mehr mahnen lassen. Der große Protest der Kichen, der Wohlfahrtsverbände und vieler Medien gegen die Veränderung des Kirchenasyls hat die verantwortlichen in der Bundesregierung zur Kurskorrektur gezwungen. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) milderte seine Kritik und nahm Ende Februar 2015 von geplanten Verschärfungen der Fristenregelung Abstand.
Angriffe auf das Kirchenasyl
Polizei mit Rammbock ins evangelische Gemeindehaus in Schwerin
Polizeikräfte in voller Schutzausrüstung, die eine Wohnung stürmen, ein abgeführter Mann, ein schreiendes Kind. Es sind Szenen, die an die Festnahme eines Schwerverbrechers erinnern, die sich am 20. Dezember 2023 am Rande eines Schweriner Plattenbaugebietes abspielen. Doch tatsächlich geht es um eine Abschiebung – und das Ende eines Kirchenasyls. Das Polizeiaufgebot galt zwei Männern aus Afghanistan, 18 und 22 Jahre, deren insgesamt sechsköpfige Familie sich mit ihnen in die Flüchtlingswohnung der evangelischen Petrusgemeinde zurückgezogen hat. Die Brüder sollen zurück nach Spanien, wo sie zuerst in der EU registriert wurden, so hatte es die zuständige Ausländerbehörde in Kiel verfügt. Als „beschämend und mit den Grundsätzen der Menschenrechte unvereinbar“ kritisiert die Flüchtlingsbeauftragte der Nordkirche, Dietlind Jochims, die Aktion. Mit dem Rammbock vor den Räumen der Kirche zu stehen, wie in Schwerin geschehen, das galt bislang als Tabu. Zudem widerspricht es einer Vereinbarung zwischen den Kirchen und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, welche die Duldung des Kirchenasyls „zur Vermeidung von besonderen humanitären Härten“ vorsieht. – In den vergangenen Monaten 2023 gab es nach Angaben der Kirchenasyl-Initiatoren häufiger ähnliche Situationen. Vor allem ein Fall in Viersen erregte im Sommer Aufsehen, wo die Ausländerbehörde ein kurdisch-irakisches Ehepaar aus dem Kirchenasyl nach Polen abschieben wollte. Öffentlicher Protest verhinderte das Vorhaben. Theologin Jochims sieht einen Strategiewechsel der Behörden – und eine sinkende Scheu vor geweihtem Raum. „Der Druck der Behörden auf das Kirchenasyl wird stärker“, sagt sie.
Siehe auch:
Asyl (Artikelübersicht)
Anmerkung: Auf die Bitte eines Mitglieds der Familie Mfebe haben wir im August 2020 das Familienfoto aus diesem Beitrag entfernt, obwohl es dazu keinen presserechtlichen Grund gibt. Quelle: Nach Ralph Wilms „Ein Kapitel der Stadtgeschichte“ in der WAZ vom 23. Dezember 2007.