Ostpreußen, Pommern, Schlesier u. a. bauten die Stadt mit auf
Von Wolf Stegemann – Die Vertriebenen kamen aus den nach dem Zweiten Weltkrieg verloren gegangenen Ostgebieten und aus der sowjetisch besetzten Zone (SBZ, spätere DDR). Sie mussten integriert werden und wurden daher den Städten und Gemeinden zugewiesen. 1957 waren 14 Prozent aller Einwohner des Amtes Hervest-Dorsten Vertriebene. Sie wurden zuerst in Lagern (z. B. an der Schleuse) untergebracht, dann in normalen Wohnungen des geförderten Wohnungs- und Siedlungsbaus. Bis 1975 haben etwa 10.000 Heimatvertriebene in Dorsten Aufnahme gefunden und sind Bürger der Stadt geworden: aus Schlesien, Pommern, dem Sudetenland, aus West- und Ostpreußen. Schon 1951 wurde die erste Vertriebenensiedlung gebaut, weitere folgten.
Schnell beteiligten sich die Heimatvertriebenen am gesellschaftlichen und politischen Leben in der Stadt – ohne ihre Heimat zu vergessen. Die Landsmannschaften (sudetendeutsche, pommersche, oberschlesische, schlesische, west-ostpreußische) sowie der Ostlandchor (später Ostwestchor genannt) dienten als Sammelbecken von Geselligkeit und Traditionspflege. Obwohl viele Einheimische die Flüchtlinge als „Franzosenkraut“ bezeichneten, die man, wenn sie einmal da sind, nicht mehr weg bekommt, halfen die Heimatvertriebenen am Aufbau der Stadt kräftig mit.
14 Prozent der Einwohner waren Heimatvertriebene
Ostvertriebene gründeten bis 1950 über 40 kaufmännische und handwerkliche Betriebe und stellten ihre Erfahrungen in leitenden Positionen der Dorstener Wirtschaft und Verwaltung zur Verfügung (wie Stadt- und Amtsdirektor Desoi, Stadt- und Amtsdirektor Dr. Banke, Stadtdirektor und Bürgermeister Dr. Zahn, Bürgermeister Heinz Ritter u. a.). 40 Prozent der 1950 in der Stadt lebenden 2.600 Heimatvertriebenen kam aus Schlesien, 21 Prozent aus Ostpreußen, 19 Prozent aus Westpreußen, der Rest aus dem Warthegau, dem Sudetenland, Pommern und Danzig. 1957 wurde am Lager Schleuse ein weiterer Wohnblock für 24 Wohnungen errichtet, um 440 Heimatvertriebenen eine Bleibe zu geben. 1957 waren im gesamten Amtsbezirk Hervest-Dorsten 14 Prozent der Einwohner Heimatvertriebene, die jedes Jahr den „Tag der Heimat“ in Erinnerung an ihre Vertreibung begangen haben. Am 6. August 1950 wurde von Vertretern der Landsmannschaften die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ verfasst und proklamiert.
Zentrum gegen Vertreibungen in der politischen Diskussion und Kritik
Eines der politischen Ziele des Bundes der Vertriebenen (BdV) unter der Präsidentin Erika Steinbachs ist die Errichtung eines Zentrums gegen Vertreibung in Berlin, das auch dem Schicksal der deutschen Vertriebenen gewidmet sein soll. Sie war (bis August 2005 gemeinsam mit Peter Glotz) die Vorsitzende der zu diesem Zweck im September 2000 gegründeten „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Der Bund der Vertriebenen schlug im Februar 2009 neben zwei weiteren Vertretern Erika Steinbach für einen Sitz im Beirat der Stiftung vor. Diese Stiftung soll ein Dokumentationszentrum der Bundesrepublik Deutschland mit dem Arbeitstitel „Sichtbares Zeichen“ initiieren. Die Nominierung Steinbachs war politisch umstritten, sie wurde von polnischer Seite kritisiert. SPD und Oppositionsparteien in Deutschland sprachen sich gegen die Mitwirkung Steinbachs im Stiftungsbeirat aus. Daraufhin zog der BdV die Nominierung Steinbachs zurück, weil man „nicht der billige Vorwand dafür sein wolle, das Stiftungsgesetz nicht in die Tat umzusetzen und so die Stiftung auf den letzten Metern noch zu verhindern“. Das Präsidium des BdV kündigte an, keinen anderen Vertreter an der Stelle Steinbachs zu benennen, weil sich der BdV sein originäres Besetzungsrecht nicht nehmen lasse. Dagegen wurde von der Bundesregierung klargestellt, dass der Vertriebenenverband zwar das Recht auf eine Vorschlagsliste hat, die Beiratsmitglieder jedoch nicht von ihm, sondern vom Kabinett berufen würden. Nach dem Wechsel der Regierungskoalition 2009 wurde Steinbach wieder für einen Sitz im Beirat ins Gespräch gebracht. Im Februar 2010 verzichtete Erika Steinbach endgültig. Über die Besetzung des Beirats entscheidet künftig der Bundestag.
Zur Geschichte: Die von den Alliierten schon auf der Konferenz von Teheran Ende 1943 beschlossene Westverschiebung der polnischen Grenzen zugunsten der UdSSR und zu Lasten Deutschlands war nur durch Aussiedlung der in den deutschen Ostgebieten lebenden Bevölkerung zu erreichen. Ein großer Teil der Menschen war dort schon bei Herannahen der Roten Armee Anfang 1945 geflohen, die anderen wurden vertrieben. Zwar bestimmte das Potsdamer Abkommen, dass dies in „geordneter und humaner Weise“ zu geschehen habe, doch waren zu diesem Zeitpunkt schon die meisten Ostdeutschen zum Verlassen der Heimat gezwungen worden, und das unter Umständen, die den barbarischen Methoden der deutschen Besetzer in den Ländern Europas in unterschiedlicher Härte kaum nachstanden. Von den insgesamt 19,7 Millionen Deutschen östlich der Oder-Neiße-Linie und in Ost- und Südosteuropa kamen bis 1950 fast 12 Millionen nach Westdeutschland und 4,4 Millionen in die DDR. Von dort zogen die meisten als Flüchtlinge nach Westen weiter. Sie hatten fast alle ihre gesamte Habe verloren; zwei Millionen verloren auch ihr Leben während der Vertreibung, in der sich aufgestauter Hass entlud, aber auch planmäßig mit tödlicher Brutalität zur Abschreckung von Rückkehrwilligen vorgegangen wurde. – In der Bundesrepublik erhielten die Vertriebenen durch Gesetz vom 19. Mai 1953 einen besonderen Rechtsstatus und Hilfen nach dem am 14. August 1952 erlassenen Lastenausgleich-Gesetz; sie hatten schon 1950 in einer „Charta der Heimatvertriebenen“ ausdrücklich auf Vergeltung verzichtet; ihre Verbände jedoch halten zumeist auch noch heute an der Forderung nach – friedlicher – Wiedergewinnung der Grenzen von 1937 fest.