Blick in die Partnerstadt: frühe Konzentrationslager, späte Aufarbeitung
Von Wolf Stegemann. – Schlägt man in der Literatur nach, wie die nationalsozialistischen Jahre in Dorstens Partnerstadt Hainichen verlaufen sind, dann findet der Leser in den bis zur Wendezeit erschienenen Veröffentlichungen nicht viel. Meist sind es drei bis fünf Eintragungen, die an Jahreszahlen festgemacht sind: „Vom März bis Juni 1933 diente das Volks- und Sportheim den Faschisten als ,Schutzhaftlager’, als KZ also. – 1934 Eröffnung der ,Framo-Werke GmbH’ Hainichens. – 1935 Anlegen der Blumenuhr, ein Geschenk der Gellerttische anlässlich der 750. Jahrfeier der Stadt.“ Auch nach der Wiedervereinigung 1990 kam es jahrelang nicht zu einer Auf- bzw. Nacharbeitung der nationalsozialistischen Jahre in der Geschichte der Stadt. Diese kam erst ab der Jahrtausendwende in Gang. Im Fokus westdeutscher Forschung stand das frühe KZ der SA in Hainichen schon länger, erst später die veröffentlichten Erinnerungen von älteren Einwohnern oder deren Söhnen und Töchtern in Hainichen selbst. Die Katholische Jugend im Landkreis Mittweida erforschten die Schicksale katholischer Pfarrer in Hainichen und erarbeitete eine Ausstellung, die 2007 im Rathaus von Hainichen unter dem Titel „Pfarrer unserer Gemeinde – erste Opfer des NS-Regimes“ zu sehen war. Die beiden Hainichener Konzentrationslager bisher ist nur von einem KZ die Rede sind von Historikern in den 1990er-Jahren gut erforscht und dargestellt. 2009 legte der damals 31-jährige Journalist Thomas Kretschmann ein Buch mit dem etwas spröden Titel „Hainichen – Zeitzeugen-Berichte und Dokumente 1930 – 1950“ vor, das er selbst verlegte. Darin ging er auf 230 Seiten „vergessenen Schicksalen“ nach. Angeregt wurde der Herausgeber durch seine Großmutter, die, wie viele Neubürger Hainichens, als Flüchtling aus Ostpreußen kamen. Ihre Geschichte ist in dem Buch ebenso für die Nachwelt dokumentiert wie die Existenz zweier Konzentrationslager in Hainichen und der Einmarsch der Roten Armee sowie die Versorgungsnöte danach.
Gauleiter Mutschmann brachte Sachsen auf nationalsozialistischen Kurs
Sachsen gehörte zu den wichtigsten regionalen Zentren des Nationalsozialismus im Deutschen Reich. Im Zuge der „Gleichschaltung der Länder“ wurde der Hitlervertraute Martin Mutschmann Reichsstatthalter von Sachsen. Am 30. Januar 1934 hörte der Freistaat Sachsen staatsrechtlich auf zu bestehen, nachdem die Landesregierung unter Abtretung der Hoheitsrechte dem Reich unterstellt wurde. Unter Mutschmann, einem der mächtigsten Landespolitiker des nationalsozialistischen Deutschlands, kam es ab Oktober 1938 in Sachsen zu Massendeportationen tausender Juden. Im Zweiten Weltkrieg erlitt Sachsen schwere Verluste, wobei die Zerstörung Dresdens als besonderes Symbol des Krieges in die Geschichte einging.
Konzentrationslager der SA für Kommunisten und Sozialdemokraten
Am 4. April 1933 ordnete der Amtshauptmann von Döbeln die Bildung eines „Arbeitslagers“ in einem Volks- und Sportzentrum an der Oederanstraße 6 in Hainichen an. Ortsgruppenleiter Georg Ziegler war der Kommandant und Friedrich Zill diente als Stellvertreter. Georg Ziegler war Alkoholiker und hieß hinter vorgehaltener Hand nur „Suff“- Ziegler. Die Wachen bestanden aus Männern des SA-Sturms 5/139, später ergänzt durch SS-Sturmbann II/ 148 aus Colditz. Der „Hainichener Anzeiger“ schrieb am 5. April 1933, also einen Tag nach der Eröffnung, einen euphorischen Bericht:
„Machtvoll flattert das siegreiche Hakenkreuzbanner auf dem ehemaligen Volks- und Sportheim Hainichens im Frühlingswind. Ein SA-Mann steht mit geladenem Gewehr als Wachtposten vor dem Eingang. Und drinnen in dem schönen Gebäude herrscht ein ungewöhnliches Treiben. Das ehemalige Volks- und Sportheim hat nun endgültig seine Verwendung, allerdings in einer Art, wie es sich der Erbauer niemals hätte träumen lassen. Im dem Gebäude ist seit dem 4. April ein Konzentrationslager für politische Schutzhäftlinge eingerichtet worden. Es sind ungefähr 50 marxistische Personen im Lager eingetroffen.“
Gefangene wie Vieh behandelt – Prozesse gegen Wärter nach 1945
Die Zahl der Insassen stieg schon eine Woche später auf 144 an, später auf 300. Untergebracht waren die Gefangenen in der Turnhalle. Sie mussten auf dreckigem Stroh schlafen, das tagsüber in einer Ecke zusammengekehrt werden musste und abends wieder verteilt wurde. Unter der Turnhallen-Bühne war ein Bunker, in dem Gefangene verhört und zur Bestrafung geprügelt wurden oder ein Redeverbot für 14 Tage bekamen. Selbst wenn sie nur die Lippen bewegten, bekamen sie Prügel. Das Essen war schlecht und häufig mit nicht Essbarem vermischt. Mit eigenem Geld konnte die Gefangenen besseres Essen kaufen. Frauen, die ihre Männer besuchten, wurden „wie Vieh behandelt“, angeschrien und beschimpft. Das ging sogar den NS-Behörden zu weit.
Der SA-Wachmann Kurt Wadewitz aus Hainichen wurde am 14. Mai 1935 wegen schwerer Körperverletzung, begangen im KZ Hainichen, vom Landgericht Leipzig zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach Kriegsende verurteilte ihn das Landgericht 1948 erneut zu fünf Jahren Zuchthaus. In einem weiteren Verfahren wurden zwölf SA-Wachmänner des ehemaligen KZ Hainichen wegen Grausamkeiten an Häftlingen von der 1. Strafkammer des LG Leipzig als „Hauptverbrecher“ zu mehrjährigen Zuchthaus- und Gefängnisstrafen verurteilt: Der stellvertretende Kommandant Friedrich Zill erhielt sieben Jahre, der Wachmann Otto Peterhansel vier Jahre und sechs Monate Zuchthaus, die SA-Männer Oskar Büchl, Willy Bürger, Karl Gera Bruno Heinrich, Karl Lippmann, Friedrich Schmeisser je drei Jahre Gefängnis, andere zwei Jahre. Die Zahl der Insassen schwankte von anfangs 50 Gefangenen bis April dann auf fast 300 vor seiner Auflösung am 13. Juni 1933. Hainichens Gefangene wurden in drei Verhaftungskategorien eingeteilt. Diese Kategorien hingen von dem Grad der vermuteten Beteiligung in den linken Parteien ab. Sie reichten von Nichtmitgliedern, die sofort freigelassen werden sollten, Parteimitgliedern, die auf unbestimmte Zeit in Haft waren, zu Beamten, die als die schwersten Fälle galten. Nach der Schließung des Hainichener Konzentrationslagers am 13. Juni 1933 wurden die rund 300 Gefangenen in die ebenfalls schon bestehenden Konzentrationslager am Schloss Colditz und ins nahe Sachsenburg bei Frankenberg verbracht.
Auch brutale Aufseherinnen im Frauenlager-Außenlager des KZs Flossenbürg
Ein Frauen-Außenlager des KZs Flossenbürg wurde vom 2. September 1944 bis 30. April 1945 für rund 1500 Frauen von der SS im Großberger Wald betrieben. 500 jüdischen Frauen aus Ungarn und Polen waren in der Frankenberger Straße (ehemalige Nadelfabrik) untergebracht und mussten im Framo-Automobilwerk in der Gottlob-Keller-Straße arbeiten. Über dieses Lager liegen Berichte über brutale Aufseherinnen vor, die vorher Arbeiterinnen in der Framo-Autofabrik waren. 1945 wurden 15 dieser Aufseherinnen, unter denen einige besonders brutal waren, von den Sowjets im NKWD-Lager Mühlberg interniert. Zwei von ihnen verstarben dort. Der als brutal bekannten Gertrud Becker wurde in Waldheim als Einziger von den Frauen nach fünf Jahren Lagerhaft ein Prozess gemacht. Sie kam 1955 wieder frei.
Hainichener KZ-Aufseherinnen nach 1945 im NKDW-Internierungslager
1945 wurden tatsächliche und vermeintliche Nationalsozialisten aus Hainichen und Jugendliche, die im Verdacht der Mitgliedschaft in der NS-Werwölfe-Organisation standen, im sowjetischen NKDW-Internierungslager Toszek und im Speziallager Nr. 1 Mühlberg interniert. Der Geschäftsführer der in den Nationalsozialismus verstrickten Framo-Werke, Hans Rasmussen, Sohn des Firmengründers, verstarb in Toszek. Framo hieß die sächsische Automobilmarke (Kleintransporter und PKW), die 1923 in Frankenberg gegründet und mit 700 Mitarbeitern 1933 nach Hainichen verlegt wurde. 1957 erfolgte die Umbenennung in „VEB Barkas-Werke Hainichen“, kurz darauf wurde der Betrieb von Hainichen nach Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) verlegt und ging dabei in einem Zusammenschluss mehrerer Werke, den „VEB Barkas-Werken-Karl-Marx-Stadt“ auf.
Exkursion: Framo-Automobile sind eine Erfolgsgeschichte
Der Geschäftsführer Hans Rasmussen trat bereits 1931 in die NSDAP ein und gehörte dem NS-Kraftfahrkorps an. Im Jahr 1932 fusionierten die Auto-Hersteller DKW mit Horch, Wanderer und Audi, um die „Auto-Union“ zu gründen. Mit dem DKW, dem größten Hersteller in der Gruppe, dachte Rasmussen, dass er ein Anrecht hätte, die Geschäftsleitung zu übernehmen. Aber Vorstandsmitglieder und die Geld gebende Staatsbank von Sachsen machten Baron von Oertzen (Auto-Union) zum Geschäftsführer. Rasmussen beschränkte sich jetzt, in seinem Hainichener Framo-Werk, Personenwagen auch ohne Fusion mit DKW wie vor weiterzuentwickeln. Auf der Berliner Auto-Schau 1934 präsentierte Jørge Rasmussen Hitler seinen aus Sparsamkeitsgründen mit nur einer Tür versehenen Framo-Piccolo. Doch Hitler war davon nicht beeindruckt und beschrieb das Auto als „nicht mal die Hälfte einer Traube“. Trotzdem sah die internationale Presse den Piccolo als die Verkörperung von Hitlers Volkswagen. Unterstützt vom NSDAP-Ortsgruppenleiter Georg Ziegler, gleichzeitig Kommandant des Konzentrationslagers in Hainichen, mussten in der Fabrik jüdische Zwangsarbeiterinnen arbeiten. Ab 1. Oktober 1943 nahm Framo die Rüstungsproduktion auf. Rasmussen wurde vom Speer-Ministerium als Leiter eines „Sonderausschusses Granat- und Nebelwerfer“ berufen. Im Hainichener Werk wurden auch Bauteile für Panzerabwehrkanonen und Nebelwerfer produziert. Deshalb wurde der Betrieb ab 1945 als Rüstungsbetrieb fast vollständig demontiert.
Siehe auch: Hainichen
Siehe auch: Hainichen in den Schlagzeilen