Franziskaner-Missbrauchsstudie

Sexualisierte Gewalt in Vergangenheit und Gegenwart in der Ordensprovinz

Als Ordensgemeinschaft wollen sich die Franziskaner dieser dunklen Seite ihrer Geschichte stellen und Verantwortung übernehmen für erlittenes Unrecht. Hierfür hat 2024 die Deutsche Franziskanerprovinz das Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) in München mit einer Unabhängigen Aufarbeitung sexualisierter Gewalt der Franziskaner beauftragt. Dies geschieht in Form einer Studie, die einerseits das Ausmaß sexualisierter Gewalt in Vergangenheit und Gegenwart im Bereich der Ordensgemeinschaft untersucht, andererseits die Hintergründe und den Umgang mit (potenziellen) Tätern und mit den Betroffenen. In diese Studie werden auch die sexuellen Missbräuche der Franziskaner in Dorsten mit einbezogen, die vor allem als Lehrer am Gymnasium Petrinum eine Auswahl an Jugendlichen für ihre Missbräuche hatten. Diesen Dorstener Teil der Franziskaner erforschte und veröffentlichte der Journalist Wolf Stegemann, Herausgeber u. a. dieses Dorsten-Lexikons. Links der Veröffentlichungen in diesem Lexikon siehe unten.

Missbrauch der Franziskaner in Dorsten offensichtlich ein Tabi-Thema

Bemerkenswert war (und ist), dass es nach den Veröffentlichungen in Dorsten kaum öffentliche oder private Äußerungen gab. Wenn ansonsten zu solchen Artikel bis zu dreißig und mehr Anmerkungen, Kommentare, Meinungen an den Autor Stegemann geschickt wurden, gab es im Falle der Franziskaner, die vom Bürgermeister trotz ihrer Missbräuche aktuell als heilbringend bezeichnet wurden, nur zwei Anmerkungen. Offensichtlich waren (und sind) die Missbräuche der Franziskaner ein Tabu-Thema in Dorsten. Das erkannte auch der frühere Petrinum-Schüler Dr. Jürgen  Jenke, der mit seinen persönlichen Erfahrungen und seinem Wissen zu der Erforschung und Veröffentlichung beitrug. Die Franziskaner-Provinz, zu der Dorsten gehört, verweigerte direkte Informationen.

Franziskanerprovinz lässt Missbräuche erforschen – auch die in Dorsten

Erstaunlich ist, dass viele Jahre später, die Deutsche Franziskanerprovinz Wissenschaftler beauftragt hat, die Missbrauchsgeschichte des Ordens zu erforschen und zu veröffentlichen. Im Mai/Juni 2024 wurde der Dorstener Journalist von den Herausgebern angeschrieben und um Erlaubnis gebeten, seine Dorstener Franziskaner-Forschungsergebnisse zur Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen, der dem auch zustimmte. Über Anlass, Ziel und unabhängige Aufarbeitung des Forschungsprojekts informierte die Deutsche Franziskanerprovinz auch die Öffentlichkeit und bat Leser um persönliche Informationen. Hier der Text wiedergegeben:

Was ist der Anlass? Auch durch Franziskaner haben Menschen an verschiedenen Orten in Deutschland sexualisierte Gewalt erfahren, die ihr Leben wesentlich geprägt hat und an deren Folgen sie häufig noch immer leiden. Seit 2010 haben wir über 40 Meldungen zu (Verdachts-)Fällen sexualisierter Gewalt gesammelt. Diese beziehen sich meist auf den Zeitraum von 1960 bis 1990. Der Großteil der als Täter beschuldigten Brüder ist bereits verstorben. Als Ordensgemeinschaft stellen wir uns der dunklen Seite unserer Geschichte und übernehmen die Verantwortung für das erlittene Unrecht.
Was ist das Ziel der Aufarbeitung? Primär dient die unabhängige Aufarbeitung zunächst dazu, den Betroffenen einen Raum für ihre Geschichte und ihre Anliegen zu eröffnen, sie zu hören und ihre Perspektive einzunehmen. Das IPP verfolgt dabei einen sozialwissenschaftlichen Ansatz in Form von Interviews mit Betroffenen. Aus deren Erkenntnissen und aus den Gesprächen mit Betroffenen erhoffen wir uns ein besseres Verständnis für deren Bedürfnisse und Situation. Wir wollen wahrnehmen, welche Auswirkungen die ausgeübten Gewaltformen auf die Betroffenen hatten und haben und wie sie die ihnen zugefügte sexualisierte Gewalt bewältigt haben. Es gilt auszuloten, wie wir ihnen im Rahmen des Möglichen Gerechtigkeit widerfahren lassen können.
Für den Blick nach innen bedeutet die unabhängige Aufarbeitung eine kritische Sichtung unserer Geschichte in den letzten Jahrzehnten. Das Thema „Sexualisierte Gewalt“ spielte im Ordensalltag kaum eine Rolle und war etwas, mit dem sich – wenn überhaupt – die jeweiligen Leitungsverantwortlichen zu befassen hatten. Von der Studie erhoffen wir uns ein Gesamtpanorama, einen Überblick über das Geschehene, aber ebenso die Anregung, über bestimmte Strukturen und Formen unseres Ordenslebens miteinander ins Gespräch zu kommen.
Was ist die Zielrichtung der Studie? Die Studie verfolgt eine doppelte Zielrichtung: Sie soll quantitativ das Ausmaß aufzeigen, in dem sexualisierte Gewalt in den Jahrzehnten 1950 bis 2010 in den ehemals sechs Franziskanerprovinzen in Deutschland und seit 2010 der fusionierten Deutschen Franziskanerprovinz stattgefunden hat. Sie soll die Orte und Tatkontexte benennen, an und in denen es zu einem sexuellen Missbrauch kam. Sie soll das Handeln der jeweils verantwortlichen Leitungspersonen und den Umgang mit Betroffenen und Tätern untersuchen. Die Studie soll des Weiteren qualitativ aufzeigen, welche Faktoren sexualisierte Gewalt gefördert haben. Dazu wird das IPP Interviews führen mit Personen, die in Einrichtungen unseres Franziskanerordens (wie z.B. Schule, Internat, Heim) betreut wurden und keine sexualisierte Gewalt erlebt haben, aber von solchen Fällen möglicherweise Kenntnis bekamen bzw. zumindest über ihre damaligen Erfahrungen berichten können. Es wird Interviews mit Mitgliedern unserer Ordensgemeinschaft aus unterschiedlichen „Generationen“ geben, die über kulturelle, spirituelle und strukturelle Konzepte des Ordens sowie über diesbezügliche Veränderungen im Zeitverlauf berichten können. Dazu gehört z. B. die Frage, wie mit Macht, Nähe/Distanz, Sexualität, Spiritualität usw. im Orden umgegangen wurde und wie sich dies in Erziehungs- und Ausbildungskonzepten niedergeschlagen hat. Dazu werden Leitungs- und Ausbildungsverantwortliche befragt.
Wann liegt das Ergebnis der Studie vor? Die Arbeit des Instituts für Praxisforschung und Projektberatung hat im Oktober 2023 begonnen. Das Ergebnis der Studie dürfte Ende 2025 vorliegen.
Wie unabhängig ist die Aufarbeitung? Das IPP hat bereits mehrere Studien für verschiedene Bistümer und Einrichtungen erstellt. Es bringt daher die nötige Expertise mit. Die Unabhängigkeit der Aufarbeitung ist durch einen entsprechenden Kontrakt gewährt.
In welche Akten bekommt das IPP Einsicht? Für den quantitativen Teil haben wir dem IPP alle Akten zur Verfügung gestellt, die uns gegenwärtig im Provinzialat in München zum Thema „Sexualisierte Gewalt“ vorliegen; d.h. alle Dokumente, die Verdachtsfälle und/oder potenzielle Täter benennen, die Korrespondenz mit Betroffenen, potenziellen Tätern und Missbrauchsbeauftragten. Ferner kann das IPP Einsicht nehmen in die Personalakten und die Akten unseres Provinzarchivs in Paderborn.
Wie wird von den Franziskanern die Unabhängige Aufarbeitung unterstützt? Zur Unterstützung bei der Erstellung der Studie hat das IPP eine „Begleitgruppe“ erstellt, zu der neben den Verantwortlichen des IPP drei Brüder unserer Provinz, Betroffenenvertreter sowie drei externe wissenschaftliche Beratern gehören. Als Provinzleitung verweisen wir auf Betroffene und versuchen, relevante Brüder zur Mitarbeit (Interviews) zu gewinnen.
Warum gibt es keine gemeinsame Aufarbeitung der Ordensgemeinschaften? Im August 2020 stellte die Deutsche Ordensoberenkonferenz (DOK) das Ergebnis einer Mitgliederbefragung zum Thema Missbrauch vor. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Situation der einzelnen Ordensgemeinschaften (Größe, Altersstruktur, Art der Einrichtungen usw.) entschied die DOK, dass eine gemeinsame Studie wie im Bistumsbereich nicht möglich ist und empfahl, die Aufarbeitung in der Verantwortlichkeit der einzelnen Orden zu belassen. Zur Unterstützung nahm der „Ausschuss für unabhängige Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bereich von Ordensgemeinschaften“ (AUAO) im März 2022 seine Arbeit auf. Er berät und unterstützt auch die Aufarbeitung unserer Provinz.
Was wurde bislang zur Wiedergutmachung getan? Unsere Deutsche Franziskanerprovinz hat sich der „Ordnung für das Verfahren zur Anerkennung des Leids im Ordensbereich“ (Dezember 2020 – aktualisiert im Juni 2021) angeschlossen. Im Dezember 2020 wurde dazu die „Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistung“ (UKA) gegründet. Diese Kommission legt jeweils die Höhe der Anerkennungsleistung zugunsten der Betroffenen fest, und zahlt diesen Betrag dann auch aus den UKA-Treuhand-Fonds der jeweiligen Ordensgemeinschaft aus. Bislang haben etwa 25 Personen von uns Anerkennungsleistungen erhalten.
Welche Konsequenzen zeichnen sich schon heute ab? Die MHG-Studie von 2018 hat für den Bereich der deutschen Bistümer die massiven Versäumnisse im Kontext sexualisierter Gewalt aufgezeigt. Die Zuwendung der Verantwortlichen galt den Tätern, nicht den Betroffenen. Ihre Intention war es, die Institution Kirche zu schützen. Die Taten wurden nach außen hin vertuscht und ungenügend dokumentiert, ihre strafrechtliche und kirchenrechtliche Relevanz nur unzureichend verfolgt, die Täter lediglich in eine andere Gemeinde oder ein anderes Bistum versetzt. Ähnliche Muster dürften sich im Bereich der Ordensgemeinschaften finden. Da sich die Strukturen im Orden in Form von Gemeinschaftsleben und zeitlich begrenzter Leitungsverantwortung von denen der Bistümer unterscheiden, ist eine Frage, ob und wie sich Unterschiede zu den bisher veröffentlichten Studien zeigen.
Letztlich dienen die Ergebnisse der Studie dazu, unsere Bemühungen im Bereich der Prävention zu reflektieren und zu optimieren, um junge Menschen, aber auch Erwachsene besser schützen zu können.
Mit dem Gang an die Öffentlichkeit richten wir den Aufruf an Betroffene, sich beim IPP oder bei uns zu melden. Wie viele Betroffene sich melden, können wir derzeit nicht abschätzen. Die unabhängige Aufarbeitung ist nur ein Baustein der Aufarbeitung, die wir als Franziskaner zu leisten haben. Sie soll uns Brüdern einen konstruktiven Weg weisen, mit der persönlichen wie der gemeinschaftlichen Ordensgeschichte in puncto Missbrauch umzugehen. Dazu zählt auch der Umgang mit (verstorbenen) Tätern und die Gestaltung einer Erinnerungskultur.
Wer sind die Ansprechpartner zur Aufarbeitung? Wenn Sie Fragen oder Anregungen haben, wenden Sie sich bitte an den Provinzbeauftragten für die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in der Deutschen Franziskanerprovinz: Bruder Stefan Federbusch, St.-Anna-Str. 19, 80538 München, eMail: provinzialvikar@franziskaner.de. Das beauftragte Forschungsinstitut IPP München (www.ipp-muenchen.de) sucht Interviewpartner, die
selbst von sexualisierten Grenzverletzungen durch Mitglieder des Franziskanerordens betroffen waren (unabhängig davon, ob es dazu bereits eine Meldung gegeben hat) und/oder sexualisierte Grenzverletzungen durch Mitglieder des Franziskanerordens beobachtet oder von diesen gehört haben und/oder als Zeitzeugen über den Franziskanerorden Auskunft geben können.

Kontaktmöglichkeiten: Sie können sich über folgende Kontaktmöglichkeiten direkt an das IPP München wenden: Ansprechpartner sind Helga Dill, Peter Caspari, Gerhard Hackenschmied, Florian Straus, eMail: franziskaner@ipp-muenchen.de. Wenn Sie als betroffene Person Kontakt aufnehmen möchten, können Sie sich an unsere Beauftragten wenden: Rechtsanwalt Dr. Martin Miebach, Tengstraße 27, 80798 München, Tel.: 089 954 537 130, eMail: miebach@blaum.de. – Maria Heun, Dipl.-Theologin und Pastoralpsychologin, Tel: 0173 2365470, eMail: info@beratung-heun.de.

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