Nationalsozialismus in Dorsten und den Dörfern erforscht und publiziert
Zweimal gab es in der Bundesrepublik, von Massenmedien ausgehend, allgemeine öffentliche Erschütterungen, das deutsch-jüdische Verhältnis betreffend: das Auftauchen des „Tagebuchs der Anne Frank“ anfangs der 1950er-Jahre – Betroffenheit auslösend über das Einzelschicksal eines unschuldigen Mädchens und über die Würde, mit der es vor dem Tod bestand; und die Fernsehserie „Holocaust“ – Erschrecken weckend über die eigene, Furcht erregende Vergangenheit. Fragen schlossen sich an, wie konnte das alles geschehen? Wie konnten Deutsche solche Gräuel an Menschen begehen, nur weil sie Juden waren? Schulen und Lehrer griffen dieses Thema damals nicht auf. Erst als die NS- und kriegsaktive Generation der Lehrer durch Pensionierung verschwunden war, beantworteten auch Schulen da oder dort Fragen nach dem Nationalsozialismus und der Judenverfolgung. Aber erst Ende der 1970er- Jahre entstanden in Städten Gruppen von meist jüngeren Bürgern, die oft gegen Widerstände alteingesessener Bürger die jüngste Vergangenheit aufzuarbeiten versuchten – und sich trauten.
Arbeitskreis erforschte die dunkle Vergangenheit der Stadt
1982 schlossen sich Dorstener Bürger und Bürgerinnen um den 1980 nach Dorsten zugezogenen Journalisten Wolf Stegemann und um das Ratsmitglied Dirk Hartwich aus Rhade zum „Arbeitskreis zur Erforschung der jüdischen Gemeinde Dorsten“ zusammen, der nach Herausgabe des 1. Bandes in „Forschungsgruppe Regionalgeschichte/Dorsten unterm Hakenkreuz“ umbenannt wurde. Ziel war es, die nationalsozialistische Zeit in Dorsten zu erforschen und zu dokumentieren. Die Bitte um Mitarbeit des Heimatbundes der Herrlichkeit Lembeck an dieser Arbeit wurde vom damaligen Vorstand abschlägig beantwortet: Solange noch Menschen leben, die das Dritte Reich erlebten und daran beteiligt gewesen sein könnten, würden sie sich nicht beteiligen. Von dem Rhader Wilhelm Schwiederek wurden die Mitglieder der Forschungsgruppe sogar noch 1988, als die Forschungsarbeit voller Anerkennung bereits abgeschlossen war, in einem Leserbrief als „Neunmalkluge in der Jetztzeit“ benannt und an den Journalisten Wolf Stegemann gerichtet, schrieb er: „Stellen Sie nun mal Ihr Verantwortungsbewusstsein als mündiger Bürger eines freien Staates unter Beweis. Nicht mit der Feder – heute gibt es die Pressefreiheit – sondern mit Herz und Hand.“ Damit wollte er, dass Stegemann auf der Straße das Unrecht jenseits der Elbe und mit Plakaten die Abtreibungspraxis in der Bundesrepublik als Tötung anprangert. Der Leserbriefschreiber: „Sie dürfen ganz sicher sein, dass Sie dabei von keinem Gestapomann abgeführt werden.“
Andere übermittelten ihren Unmut gegen die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Dorsten telefonisch und anonym: Man solle doch den Dreck liegen lassen (gemeint waren ermordete Ostarbeiter und Ostarbeiterinnen) und lieber die Massengräber in Ostpreußen untersuchen, in denen deutsche Flüchtlinge von 1945 liegen. – 1983 konnten die Forschungsergebnisse im ersten Band „Dorsten unterm Hakenkreuz. Die jüdische Gemeinde“ veröffentlicht werden. Sr. Johanna Eichmann, die in diesem Jahr zur Gruppe stieß, bewertete die Arbeit nach Herausgabe dieses so: „Stellvertretend für die Gruppe dieser jungen Leute, die sich zutiefst haben betreffen lassen, müssen hier vor allem zwei Namen genannt werden: Es sind dies Dirk Hartwich und Wolf Stegemann. Sie sind nicht nur die Initiatoren. Sie hatten auch nicht einfach eine mehr oder weniger brisante Idee bei der Entdeckung einer politischen ,Marktlücke’ sozusagen, wie mancher vielleicht unterstellen möchte. Ich habe sie kennen gelernt als zwei tief Betroffene, die nicht bloße Informationen sammelten und auf Faktensuche gingen, sondern sich mit den Geschehnissen haben konfrontieren lassen, die ihnen unter die Haut gegangen sind. Ähnliches darf ich von den übrigen aktiven Mitgliedern des Arbeitskreises sagen.“
Neben Autoren und Fotografen (darunter Holger Steffe), die sich mit Beiträgen an den Büchern beteiligten, gehörten zum harten Kern der Forschungsgruppe neben Hartwich und Stegemann noch Elisabeth Cosanne-Schulte-Huxel, Sr. Johanna Eichmann, Anke Klapsing und Christel Winkel. Der damalige NRW-Landtagspräsident Van Nes Ziegler meinte 1984: „Die Forschungsgruppe trägt mit ihrer Arbeit wesentlich dazu bei, dass die Ereignisse während des Dritten Reiches im Bereich Dorsten erfasst und damit gerade der jungen Generation nahe gebracht werden können.“
Forschungsgruppe gründete 1987 das Jüdische Museum Westfalen
Die Forschungsgruppe legte zwischen 1983 und 1987 fünf Bände über die NS-Zeit in Dorsten vor (siehe „Dorsten unterm Hakenkreuz“), 1983 betreute sie zusammen mit anderen Dorstenern den ehemaligen jüdischen Bürger Ernst Metzger, der aus den USA seine Heimatstadt erstmals besuchte. Im gleichen Jahr brachte die Forschungsgruppe eine an das Schicksal der Dorstener Juden erinnernde Mahn- und Gedenktafel am Alten Rathaus am Markt an. Nach Abhängen durch die Stadt Jahre später und jahrelangem Liegen in einem Keller wurde sie auf öffentlichen Druck von der Stadt an einem weniger prominenten Ort an die Wand eines Privathauses in der Wiesenstraße angebracht (siehe Jüdische Gedenktafel). 1984 sind auf Initiative der Forschungsgruppe an den jüdischen Friedhöfen Gedenktafeln angebracht und vom Landesrabbiner geweiht worden. 1985 brachte die Forschungsgruppe zusammen mit der Stadt Dorsten Tafeln an den Ostarbeiterfriedhöfen an. Für Schulen gab die Forschungsgruppe eine Diaphonie zur NS-Zeit sowie den historischen Stadtplan „Verwischte Spuren 1933-45“ heraus. Eine Wanderausstellung zum selben Thema wurde 1985 eröffnet und 1987 gründete die Forschungsgruppe den Verein „Dokumentationszentrum für jüdische Geschichte und Religion in der früheren Synagogenhauptgemeinde Dorsten im Kreis Recklinghausen e.V.“ (später umbenannt in „Verein für jüdische Geschichte und Religion e. V.“) als Trägerverein für die Errichtung eines jüdischen Museums (Jüdisches Museum Westfalen). 1989 legte sie die Forschungsarbeit als Bild-Textband „Juden in Dorsten und in der Herrlichkeit Lembeck“ (Hg. Wolf Stegemann und Sr. Johanna Eichmann) vor und beteiligte sich 1993 an der Ausstellung „Neues Leben blüht aus Ruinen“ zum Wiederaufbau der Stadt nach der Zerstörung 1945. – Da die von W. Stegemann herausgegebenen Bücher mittlerweile vergriffen sind, hat Wolf Stegemann auf Bitten von Lehrern 2012 die Texte der Bücher überarbeitet und zusammen mit aktuellen Texten unter „Dorsten unterm Hakenkreuz“ online als Dokumentation veröffentlicht (www.dorsten-unterm-hakenkreuz.de). – Erklärung zu den obigen beiden Bildern: Besprechung des harten Kerns der Forschungsgruppe 1984 mit Wolf Stegemann, Christel Winkel, Sr. Johanna Eichmann, Elisabeth Cosanne-Schulte-Huxel und Holger Steffe (v. l.); unten: 11. November – Gedenkstunde an der früher am Alten Rathaus angebrachten Mahntafel, die an die Ermordung der Juden erinnerte; W. Stegemann rechts, Bürgermeister Lampen 4. v. l., Dirk Hartwich (3. v. r.).
Siehe auch: Dirk Hartwich
Siehe auch: Jüd. Museum (mehrere Beiträge)
Siehe auch: Sr. Johanna Eichmann
Siehe auch: Verein für jüd. Geschichte und Religion
Siehe auch: Wolf Stegemann