Für schuldige Nazi-Bonzen wurden massenhaft „Persilscheine“ ausgestellt
Von Wolf Stegemann – Auf Veranlassung der britischen Militärregierung wurden im Frühjahr 1946 die ersten örtlichen Entnazifizierungsausschüsse gemäß dem Potsdamer Abkommen zur Beseitigung des Nationalsozialismus mit zunächst nur beratender Funktion eingerichtet. Jeder Bürger ab 18 Jahren (jeder 5. Deutsche) hatte einen mehrseitigen Fragebogen auszufüllen, den zunächst die örtlichen Unterausschüsse prüften. Auf beiden Seiten, bei der britischen Militärregierung wie der deutschen Verwaltung Westfalens, war die fachliche Eignung ein unabsehbares Auswahlprinzip, wenn es um herausgehobene Positionen des öffentlichen Lebens ging. Auf der deutschen bzw. der westfälischen Seite kam hinzu, dass sehr strikt auch auf „politische Sauberkeit“ geachtet wurde. Im Prinzip ist diese Linie durchgehalten worden. Aber wenn beispielsweise ein guter Fachmann, ein guter Techniker zumal, gesucht wurde und einem Kandidaten mit NS-Vergangenheit kein gleichwertiger Bewerber entgegenstand, der sich als politisch einwandfrei ausweisen konnte, dann griff man auch schon mal auf ein früheres NSDAP-Mitglied zurück. Der Wiederaufbau musste augenscheinlich funktionieren, das Leben weitergehen. Das Ziel der Entnazifizierung wurde pragmatischer Handhabung unterworfen, solange es „nur“ um eine politische Neuorientierung ging. Ging es dagegen um eine Bestrafung ausgemachter Verbrecher oder um eine Entfernung von Verbrechern oder Übeltätern aus verantwortlichen Stellen, beispielsweise durch Internierung in einem der speziell eingerichteten Lager in Recklinghausen-Hillerheide, Hövelhof-Staumühle oder Hemer bei Iserlohn, so handelte man unnachsichtig. Die Kompromisse, die nach 1945 bei der politischen Säuberung eingegangen wurden, zeigten, dass die Briten für die Wahrnehmung der großen Aufgabe einer Entnazifizierung organisatorisch nur unzulänglich gerüstet waren. Am Ende waren von der Entnazifizierung acht Prozent der 5.809.952 Menschen, die nach der Volkszählung vom 29. Oktober 1946 in der Provinz Westfalen einschließlich des Landes Lippe lebten, betroffen. Das waren gut 45.000 Bürger, wenn man die Angaben, die für die Entnazifizierung in Nordrhein-Westfalen ausgewiesen wurden, für das Gebiet der Provinz Westfalen und des Landes Lippe proportional hochrechnet. Rund 30.000 der Überprüften wurden als Entlastete freigesprochen oder amnestiert.
Die Einstufungen des Entnazifizierungsverfahrens
Es gab einen allgemeinen Unterausschuss, dem in Dorsten zeitweise Weidner, Hovelmann, Havermann und Hühnerschulte angehörten. Ämter und Betriebe hatten eigene Ausschüsse. Der Unterausschuss kategorisierte den Überprüften (I = hauptschuldig, II = belastet, III = minderbelastet, IV = Mitläufer, V = entlastet) und schlug die Einstufungen dem Hauptausschuss in Recklinghausen vor, der sich meist an die Empfehlung hielt. Die Mitglieder des Hauptausschusses gehörten der CDU, der KPD und der SPD an. Gegen die Einstufungen, die mit Sanktionen verbunden waren, konnten die Betroffenen Einspruch einlegen. 1947 wurde in Recklinghausen ein Spruchgericht mit 40 Spruchkammern eingerichtet, dem als Laienbeisitzer die Dorstener Paul Weidner, Josef Havermann, Gustav Emmrich und Anton Kasner angehörten.
Für die Entnazifizierung wurde gelogen und betrogen
Nach dem Krieg war es plötzlich von erheblichem Vorteil, mit einem anerkannten Gegner des NS-Systems befreundet gewesen zu sein oder gar einem KZ-Häftling geholfen zu haben. Im Zuge der Entnazifizierung wurden solche Bekanntschaften oder Hilfeleistungen oft ohne reale Grundlage gegen Bezahlung dokumentiert, also schlichtweg gelogen. Diese Ehrenerklärungen zur Weißwaschung erhielten nach dem bekannten Waschmittel den Spitznamen „Persilscheine“. Früheren Nazi-Funktionären stellten Pfarrer, Klöster und Entlastete falsche Zeugnisse aus, manchmal gegen Geld, in denen den NS-Funktionären auch unter oft erkennbarer Umgehung der Wahrheit bescheinigt wurde, dass sie keine Nazis waren. Die Aussteller brachten so die Gesinnungsschnüffelei der Entnazifizierer nachhaltig in Verruf. War am Anfang der Großteil der Bevölkerung mit der Entnazifizierung einverstanden, schlug die Zustimmung bald in Ablehnung um. Zahllose „Persilscheine“ machten die Spruchkammern zu „Mitläuferfabriken“. Der Historiker Wolfgang Benz meint, dass es besonders ungerecht war, dass die harmlosen Fälle zuerst behandelt wurden, die Fälle der echten Nazis später, als die Stimmung schon umgeschlagen war und sie milde beurteilt wurden. Wolfgang Benz:
„Ab Frühjahr 1948 wurde die Entnazifizierung, im Zeichen des Kalten Krieges und des Wiederaufbaus, in den Westzonen hastig zu Ende gebracht. Diskreditiert blieb das Säuberungsverfahren in jedem Fall, auch deshalb, weil überall Fachleute durchkamen, die für bestimmte Funktionen unentbehrlich schienen. Notwendig gewesen war die Entnazifizierung aber aus politischen wie moralischen Gründen.“
Über Entnazifizierung in Dorsten erstmals 1986 veröffentlicht
In Dorsten entlasteten vor allem Pfarrer, Franziskaner und Ursulinen beispielsweise den NS-Bürgermeister Dr. Gronover und den NSDAP-Ortsgruppenleiter Wolters (Deuten) zusammen mit dem Pfarrrektor, so dass die Gerichte beide als „entlastet“ einstuften. Es genügte schon, wenn einer der NSDAP-Ortsgruppenleiter vor 1933 im Chor der Gemeinde mitsang, um ihn als „entlastet“ anzusehen. Etliche Dorstener waren im Recklinghäuser Camp IV (Hillerheide) in manchen Fällen jahrelang interniert und mussten sich dort der Entnazifizierung unterziehen, wie Dorfbürgermeister, Rechtsanwälte, SS-Offiziere und SA-Führer sowie Verwaltungsbeamte. 1952 wurde die Entnazifizierung in NRW beendet. Eine moralisch-geistige Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit konnte die Entnazifizierung nicht leisten. 1985/86 sahen Mitglieder der Forschungsgruppe „Dorsten unterm Hakenkreuz“ in die im HStA Düsseldorf lagernden rund 1.000 Entnazifizierungsakten von Dorstenern ein und veröffentlichten darüber in „Dorsten nach der Stunde Null“ (1986).
Kommentar: Vergangenheit dennoch nicht bewältigt
Die Entnazifizierung war eine schwierige, wenn auch unvermeidliche Hürde auf dem von den Alliierten verordneten Weg zum Rechtsstaat. Da sie als bürokratische Großaktion betrieben werden musste, konnten Schuld und Sühne nicht in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Folglich musste sie scheitern. Die Bilanz der Entnazifizierung: 1.667 Hauptbeschuldigte, 23.600 Belastete, 150.425 Minderbelastete, 1.005.854 Mitläufer (Dreiviertel mit Sühnemaßnahmen), 1.213.873 Entlastete. Beinahe vier Millionen wurden amnestiert oder wegen Einstellung des Verfahrens nicht belangt.
Die Fragwürdigkeit der Entnazifizierung war auch den Siegern klar geworden. Doch was hätten sie tun sollen? Sie konnten auf Dauer das besetzte Land ohne die Deutschen weder verwalten noch regieren. Wenn Deutschland auch seine Vergangenheit mit der Entnazifizierung juristisch weitgehend bewältigt haben mochte, so verpassten es die Menschen dieser Generation, eine geistige Auseinandersetzung, unbeeinflusst von den Zwängen der Alliierten, folgen zu lassen, um sich ihr moralisches Versagen bewusst zu machen und um sich einzugestehen, dass sie so unwissend nicht gewesen waren.
In dieser geistigen Auseinandersetzung würde es gar nicht darum gegangen sein, sich selbst vorzuwerfen oder vorwerfen zu lassen, kein Held gewesen zu sein und keinen Widerstand geleistet zu haben. Es wäre allein auf der Erkenntnis des eigenen Versagens angekommen. Eine Erkenntnis allerdings, die wichtige Konsequenzen hätte haben können: in Zukunft sensibler zu sein für das kleine Unrecht am Anfang, das sich zum großen Unrecht am Ende auswachsen kann. Aufmerksamer zu sein, wenn die Rechte von Minderheiten oder von Einzelnen verletzt werden; die Rechte von politische Andersdenkenden oder Andersgläubigen.
Aber die Vergangenheit war 1952 für die Deutschen abgeschlossen. Bis sie in den 1980er Jahren wieder auferstand: Holocaust, Verjährungsdebatte, Neonazis, Majdanek-Freisprüche und verschleppte Kriegsverbrecherprozesse und immer wieder ein offener zu Tage tretender Antisemitismus.
Die Auseinandersetzung mit der bis heute nicht geistig bewältigten Vergangenheit in der Öffentlichkeit – wie an Stammtischen – zeigt, wie wenig Menschen fähig sind, aus der Geschichte zu lernen. Das betrifft heute, wo kaum noch Verantwortliche aus der Nazi-Zeit leben, auch die Nachgeborenen, die sich durch die zweifelhafte „Gnade der Spätgeborenen“ nicht aus der Verantwortung ihrer Eltern und Großeltern stehlen dürfen.
Quellen/Literatur:
Wolf Stegemann „Dorsten nach der Stunde Null“, Dorsten 1986. – Heiner Wember „Umerziehung im Lager. Internierung und Bestrafung von Nationalsozialisten in der britischen Besatzungszone Deutschlands“, Essen 1991. – Wolf Stegemann „Holsterhausen unterm Hakenkreuz“, 2007. – Internet-Portal „Westfälische Geschichte“ (2011).