Deutsch (II) – Begriff „Deutsches Volk“

Unterschiedliche Anmerkungen zum Ursprung des Begriffs in Deutschland

Die Frage, ab wann von einem deutschen Volk gesprochen werden kann, fand seit dem Mittelter unterschiedliche Antworten. Das Annolied des späten 11. Jahrhunderts und die um Mitte des 12. Jahrhunderts entstandene Kaiserchronik warten mit dem Geschichtsmythos auf, Gajus Julius Caesar hätte Schwaben, Bayern, Sachsen und Franken unterworfen und anschließend mit ihrer, also deutscher Hilfe, das römische Kaisertum errichtet, das also in Wahrheit ein deutsches wäre. Etwas später führte Norbert von Iburg in seiner Vita Bennonis die Entstehung der Deutschen auf den Sieg Karls des Großen über die Sachsen zurück. Der Historiker Herfried Münkler weist darauf hin, dass eine Rückbesinnung auf eine erfahrene politische Gemeinschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht möglich war, weshalb viele Literaten die Hemmungsmythik, die Erzählungen über Friedrich Barbarossa, der im Kyffhäuser schlafe, einem Nationalepos zusprachen. Hauptsächlich Intellektuelle beschworen in politischen Mythen eine nationale Identität von oben. Der Schutzpatron der Deutschen, Erzengel Michael, wurde mit Schlafmütze zum deutschen Michel, der nicht richtig wach wird und von anderen Nationen leicht betrogen werden kann.

Gleichsetzung Germanen mit den Deutschen im Mittelalter problematisch

In der historischen Forschung ist bis heute umstritten, ab wann von Deutschland und ab wann vom deutschen Volk gesprochen werden kann. In der älteren, stark national geprägten Forschung wurde die Gleichsetzung von Germanen mit den Deutschen im mittelalterlichen Reich postuliert. Dieser Ansatz ist sehr problematisch und wird in der neueren Forschung abgelehnt, denn es wird dabei auch eine bewusste Eigenidentität vorausgesetzt. In der modernen Forschung wird Ethnogenese hingegen als sozialer Prozess verstanden, in dessen Verlauf sich eine Identität im Rahmen eines komplexen Entwicklungsprozesses erst langsam herausbildet. Hinzu kommt, dass eine Sprachgemeinschaft nicht einfach mit einer ethnischen Gemeinschaft gleichgesetzt werden kann. Die Auswertung der zeitgenössischen Quellen ergibt denn auch nicht das Bild von „deutschen Stämmen“, die sich im 9. Jahrhundert bewusst in einem eigenen Reich (dem Ostfrankenreich) zusammengeschlossen haben. Als Orientierungspunkt diente vielmehr bis weit ins 11. Jahrhundert hinein das Frankenreich.

Erstmals „rex Teutinicorum“ – „König der Deutschen“ im 11. Jahrhundert

Erst im 11. Jahrhundert taucht der Begriff rex Teutonicorum („König der Deutschen“) für den ostfränkischen/römisch-deutschen Herrscher auf, allerdings als Fremdbezeichnung durch anti-kaiserliche Kreise, denn die römisch-deutschen Herrscher haben sich selbst nie so bezeichnet. Für die mittelalterlichen römisch-deutschen Herrscher waren die deutschsprachigen Gebiete ein wichtiger Teil des Reiches, das aber daneben auch Reichsitalien und das Königreich Burgund umfasste. Aufgrund der Reichsidee, die die Anknüpfung an das antike Römerreich und eine heilsgeschichtliche Komponente beinhaltete, war der damit einhergehende Herrschaftsanspruch nicht national, sondern (zumindest theoretisch) universal ausgerichtet.
In der folgenden Zeit diente als loser politischer Rahmen das Reich, als verbindende kulturelle Komponente die deutsche Sprache. Eine „deutsche Identität“ – die Idee, zu einer spezifischen, abgegrenzten Gemeinschaft zu gehören – entwickelte sich im Allgemeinen Bewusstsein erst gegen Ende des 13. Jahrhunderts. Während in England und Frankreich mit ihren zentral organisierten Königsherrschaften die Tendenz zu „nationalen Königreichen“ neigte (wobei Benedict Anderson den Begriff Nation als „vorgestellte, begrenzte und souveräne Gemeinschaft“ erläutert), dominierte im von partikularen Grundstrukturen geprägten römisch-deutschen Reich die universale Reichsidee, wenngleich Begriffe wie deutsche Lande in späteren Quellen durchaus belegt sind. Erst im Spätmittelalter begannen deutsche Gelehrte wie z. B. Alexander von Roes und Lupold von Bebenburg sich Gedanken über die Rolle „der Deutschen“ im Gefüge Europas und einer politischen Identität (biologische Kategorien spielten hier keine Rolle) zu machen, was aus einer Position politischer Schwäche des Reiches geschah, wobei die Überlegungen weiterhin stark mit der Reichsidee verknüpft blieben. Nun erst setzte der Prozess einer langsamen politischen Identitätsbildung im eigentlichen Sinne ein.

Wissenschaft: Der Staat hat das Volk geschaffen, nicht das Volk den Staat

Aus diesen Gründen wird die Frage, seit wann es ein deutsches Volk gibt, von der mediavistischen Forschung vor allem aufgrund der Prozesshaftigkeit der Ethnogenese nicht mehr eindeutig beantwortet. Laut Carlrichard Brühl hat nicht ein ewiges oder präexistentes deutsches Volk den deutschen Staat geschaffen, wie die völkische Geschichtsschreibung es lange annahm. In Wirklichkeit stehe umgekehrt „außer Frage, daß […] der Staat das deutsche Volk geschaffen hat“. Bernd Schneidmüller sieht in den oben erwähnten Ursprungsgeschichten ein Indiz für ein sich ab dem 11. Jahrhundert ausbildendes Bewusstsein der Zusammengehörigkeit. Nach dem Anglisten Manfred Görlach gab es im europäischen Mittelalter noch kein sprachlich begründetes Nationalgefühl. Der Historiker Heinz Thomas dagegen bewertet die integrierende Kraft der deutschen Sprache höher und nimmt an, dass seit den 1080er Jahren Alemannen, Bayern, Franken und Sachsen zusammenfassend als deutsch bezeichnet worden seien. Der Historiker Knut Schulz sieht dagegen Belege für ein Zusammengehörigkeitsgefühl von Deutschen im Ausland erst für das 15. Jahrhundert als gegeben an. Das Syntagma „deutsche Nation“ ist erstmals für das 15. Jahrhundert belegt, „deutsches Volk“ erst für das 19. Jahrhundert.

Siehe auch: Deutsch I – Sprache und Volk
Siehe auch: Deutsch III – Deutsche Nation
Siehe auch: Deutsch IV – Entstehung der Nation
Siehe auch: Deutsch V – Völkisches Konzept
Siehe auch; Deutsch VI – Gegenwart
Siehe auch: Deutsch VII – Begriffserklärungen

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