Bemerkenswert: In 90 Städten gingen rund 750.000 Menschen auf der Straße
Hunderttausende gingen an einem einzigen Wochenende in der Bundesrepublik auf die Straße, um ein Zeichen gegen Rechtsextremismus, Rassismus uns AfD und für Demokratie zu setzen. In Ost und in West in rund 90 Groß- und Kleinstädten. Allein am Samstag demonstrierten mindestens 300.000 Menschen auf der Straße, darunter allein 35.000 in Frankfurt/Main und Hannover, 30.000 in Dortmund – und 9000 in der thüringischen Landeshauptstadt Erfurt, wo AfD-Politiker Björn Höcke im Herbst als Wahlsieger die Regierung übernehmen will. Am Sonntag wurden noch höhere Zahlen erreicht: In München musste die Demonstration wegen Überfüllung und Verstopfung der Innenstadt abgebrochen werden, weil die Sicherheit der Teilnehmer nicht mehr gewährleistet war. Die Polizei ging dort von mindestens 80.000 Teilnehmern aus, der Veranstalter gar von 250.000. In Köln sprachen die Veranstalter von 70.000 Teilnehmern, in Bremen demonstrieren 45.000 Menschen. In Berlin waren schätzungsweise 100.000 Menschen auf der Straße.
Deutlich bemerkbar: Spürbarer Ruck geht durch die Gesellschaft
Die geografische Breite der Kundgebungen sei bemerkenswert, sagt der Konfliktforscher Andreas Zick. Ost und West seien vertreten, Metropolen wie auch kleinere Städte. Außerdem beteiligten sich Menschen, die noch nie oder seit Jahren nicht mehr demonstriert hätten. „Es sind nicht nur die erwartbaren urbanen, gebildeten und engagierten Milieus, sondern eine generationenübergreifende Zivilgesellschaft.“ Man spüre, dass ein Ruck durch die Gesellschaft gegangen sei: „Dass Richter, die Kirchen und vor allem die Unternehmen sich so klar an die Seite der Demonstrationen stellen, hat es lange nicht gegeben.“
Was aber ist es, dass diesen Ruck plötzlich ausgelöst hat? In den Umfragen ist die AfD schließlich schon seit vielen Monaten stark. Es dürften die erschreckend konkreten Details sein, die dank der Recherchen des Medienhauses Correctiv über das Treffen von Rechtsradikalen in einer Potsdamer Villa im November bekannt geworden sind. Daran hatten auch mehrere AfD-Politiker sowie einzelne Mitglieder der CDU und der sehr konservativen Werteunion teilgenommen. Der frühere Kopf der rechtsextremen Identitären Bewegung in Österreich, Martin Sellner, hatte nach eigenen Angaben über „Remigration“ gesprochen.
„Das weckt unwillkürlich Erinnerungen an die furchtbare Wannseekonferenz“, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Bei der Wannseekonferenz hatten am 20. Januar 1942 hohe NS-Funktionäre über die systematische Ermordung der europäischen Juden beraten. Das 15-seitige Protokoll der nur 60 bis 90 Minuten dauernden Sitzung ist eines der wenigen erhaltenen amtlichen Dokumente, welche die Chefplaner des Holocaust in Aktion zeigen. Auffällig ist die bürokratische Tarnsprache, in der der angestrebte Völkermord verhandelt wird: Begriffe wie „Evakuierung“, „natürliche Verminderung“, „entsprechend behandelt“ und „Lösungsmöglichkeiten“ stehen alle für Mord. Die Parallele zu dem beschönigenden Begriff „Remigration“ lässt frösteln.
Klare Gegenbewegung gegen den Aufwärtstrend der AfD
Sind die Demonstrationen nun ein kurzes Aufflackern oder baut sich da eine breite demokratische Gegenbewegung auf? „Noch ist es nicht im üblichen Sinne bewegungsförmig, aber es ist eine klare Gegenbewegung gegen den Aufwärtstrend der AfD und das weitere Eindringen in Parlamente, in die Kultur und den Alltag“, meint Wissenschaftler Zick. „Dazu müssen sich weitere Netzwerke und Aktivitäten ergeben. Das müssen wir abwarten. Aber egal was sich da entwickelt, es ist für den Moment eine wichtige gemeinsame Bewegung mit alten und neuen Akteuren, eine breite Allianz aus Gruppen inklusive von Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft. Das zeigt, dass die Demokratie Bindekräfte hat und die Mehrheit keinen weiteren Rechtsruck möchte.“
Siehe auch: Demonstration 2024 gegen Rechts in Dorsten
Siehe auch: Demonstration 2024 / Schermbeck
Siehe auch: Demonstration 2024 / Recklinghausen
Siehe auch: Demonstration 2024 / Berliner Reichtag
Siehe auch: Demonstration 2024 / bundesweit
Siehe auch: Demonstrationen 2024 / 3. und 4. Februar
Quelle: Christoph Driessen in RN vom 22. Jan. 2024