Geschichten können als Lesehefte am Süßwarenautomat gezogen werden
Geboren 1971 in Essen; aufgewachsen und zur Schule gegangen in Dorsten; Schriftsteller. – Er lebt in Bonn und schreibt Romane, Erzählungen, Aufsätze, Kolumnen und Gedichte. Nach seinem 2008 in Leipzig erschienenen Roman „Hier keine Kunst“, unter dessen Handlungsorten auch Dorsten zu erkennen ist, handelt sein 2011 im Knaus Verlag erschienener Roman „Das kaputte Knie Gottes“ in Bochum.
Feuilleton-Veröffentlichungen u. a. – Erfolgreich auch in den Medien
Nach dem Abitur 1991 am Gymnasium Petrinum in Dorsten studierte Marc Degens Germanistik und Soziologie in Bochum und beendete das Studium 1999 als Magister Artium. Da hatte er bereits etliche literarische, journalistische und wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht. Sein erster Gedichtband „Farben und Formen“ erschien 1993, sein erster Roman „Vanity Love“ im Jahre 1997. In der FAZ hatte er bereits über 100 Veröffentlichungen. Texte von ihm wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Im Jahr 2000 veröffentlichte das Feuilleton der FAZ in 18 Folgen seine Erzählung „Rückbau“, ebendort erschien von 2001/02 seine Romankolumne „Unsere Popmoderne“; neue Folgen erschienen seit 2005 in der Literaturzeitschrift „Volltext“. Marc Degens war von 2000 bis 2012 Herausgeber und Literaturredakteur des Online-Feuilletons „satt.org“ und veröffentlichte dort Aufsätze und Kritiken zur deutschsprachigen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, schrieb über amerikanische und europäische Comics und zur Popkultur. Er ist Gründer und Programmleiter des SuKuLTuR-Verlags und Herausgeber der Reihe „Schöner Lesen“, in der bislang 105 Lesehefte von mehrheitlich jungen deutschensprachigen Autoren erschienen sind und die seit 2004 in Süßwarenautomaten vornehmlich an Berliner S-Bahnhöfen vertrieben werden. Marc Degens hat den Debütroman „Strobo“ von Airen herausgegeben und teilweise lektoriert, der im Februar 2010 die Plagiatsaffäre um Helene Hegemanns Bestseller „Axolotl Roadkill“ auslöste.
„Schöner Lesen“ und „Goethe-Automat“ in Botschaften und Instituten
Von 2007 bis 2010 lebte Marc Degens in Eriwan (Armenien). Gemeinsam mit Torsten Franz und Frank Maleu erfand und moderierte er das Bühnenfeuilleton „Die Begeisterungs-Show“. Ein Ableger der „Begeisterungs-Show“ mit literarischem Schwerpunkt ist das Bühnenprogramm „Schöner Lesen“, mit dem er u. a. bereits in den Goethe-Instituten in Krakau und Bratislava gastierte. Im Auftrag der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland kuratierte Degens 2009 in Eriwan/Armenien die Wanderausstellung „Neue deutsche Zeitungscomics“. 2010 konzipierte er für das Goethe-Institut Prag die Kulturnacht „Goethe-Automat“ mit deutschen und tschechischen Künstlern. 2012 war er Kurator und Teilnehmer eines zweitägigen Literaturfestivals in Armenien und Teilnehmer des Literaturfestivals „New Literature from Europe“ in New York. 2014 wurde auf seiner Initiative hin die Unterschriftenliste „Dreißig für Wolfgang Welt“ veröffentlicht, in der 30 namhafte Schriftsteller, Journalisten und Literaturwissenschaftler, darunter Frank Goosen. Peter Handke und Friedrich Küppersbusch, forderten, Wolfgang Welt mit dem Literaturpreis Ruhr 2014 auszuzeichnen.
Marc Degens war Mitglied der Musikgruppen „Stendal Blast“ und „Superschiff“. Im Jahr 2002 erhielt er ein sechsmonatiges Arbeitsstipendium der Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur, 2005 ein dreimonatiges der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit in der Villa Decius in Krakau. 2010 war er im Rahmen des Projekts „Little Global Cities“ Stadtschreiber in Novi Sad (Serbien), 2011 wurde sein Verlag mit dem V. O. Stomps-Förderpreis der Stadt Mainz für eine kleinverlegerische Leistung ausgezeichnet.
„Meister der narrativen Tempodrosselung und Rezeption“
Steffen Stadthaus bezeichnet Degens in seiner Rezension des Romans „Hier keine Kunst“ „als Meister der narrativen Tempodrosselung und als Erfinder eines literarischen Slowcores“. Walter Gödden nennt Degens in einer Zeitungskritik anlässlich seines Romans „Fuckin Sushi“ „einen authentische[n] Dokumentarist[en] des Popzeitalters“. Gregor Keuschnig weist in seiner Kritik des Buches daraufhin, dass der Autor seinen Roman im Internet „kongenial auch crossmedial begleitet.“
Einzelveröffentlichungen (Auswahl): „Dorsten“, Erzählung (siehe Auszug unten), 2014. – „Fuckin Sushi“, Roman. Dumont Buchverlag, Köln 2015, „Das kaputte Knie Gottes“, Roman, Knaus Verlag, Berlin 2011. – „Das kaputte Knie Gottes“, Roman, München 2011. – „Unsere Popmoderne“, Erzählungen, Berlin 2010. – „Schöner Lesen 88“, Berlin 2009. – Abweichen. Über Bücher, Comics, Musik“, Berlin 2008. – „Ich kann“, Erzählungen, Berlin 2008. – „Hier keine Kunst“, Roman, Leipzig 2008. – „Unsere Popmoderne“, Erzählungen, Berlin 2005. – „Rückbau“, Erzählung, Berlin 2003. – „pop.mitte.berlin – Ein Lob auf die Mittelmäßigkeit“, Erzählung, Berlin 2001. – „Vanity Love“, Roman, Weissach/Thüringen 1997. – „Man sucht sich“, Gedichte/Kurzprosa, Berlin 1996, Neuauflage 2005. – „Farben und Formen“, Gedichte/Kurzprosa. Marl 1993.
„Dorsten“ –
Auszug aus der 2014 erschienenen Erzählung
Mehrmals im Jahr fahre ich nach Dorsten und arbeite in meinem alten Zimmer an meinem neuen Roman. Ich schreibe und lese, rede mit meinen Eltern, lasse mich bekochen und gehe viel spazieren. Mein erster Spaziergang führt mich quer durch die Stadt. Busbahnhof, Lippetor-Center, Petrinum – und wieder zurück. Unterwegs getroffen habe ich noch nie jemanden. Alle meine ehemaligen Mitschüler sind irgendwann fortgezogen. Wenn ich das Haus verlasse, winkt mein Stiefvater mir nach. Wenn ich zurückkomme, steht er bereits in der Tür.
„Was machst du denn schon wieder hier?“, fragt er kopfschüttelnd. „Hast du was vergessen?“
„Nein“, antworte ich lachend. „Alles gesehen.“
Erleichtert schließt er hinter mir die Tür. Er hat es nicht gern, wenn ich allein in Dorsten unterwegs bin. Vor allen Dingen nach Einbruch der Dämmerung. Mein altes Zimmer unterm Dach ist schöner als früher. Der Fernseher ist so groß wie meine Matratze – nur dünner. Wenn Laster auf der Straße vorbeirollen, wackelt die Vitrine. Die Ansagen am Bahnhof stören mich nicht und enden früh am Abend, wenn ich noch schreibe.
Jeden Tag laufe ich durch die Unterführung am Bahnhof und schlendere durch die zugeklinkerte Innenstadt. „Stadt OHNE Freibad“ steht auf einem Aufkleber in schwarz-gelber Ortsschild-Optik. Ein Plakat wirbt noch Wochen später für den Klumpensonntag in Rhede. Ich fotografiere das Diana-Relief von Arno Breker an einer Fassade. Neben dem Relief befindet sich die Abbildung einer Germania-Statue mit folgendem Text: „Germania wurde 1896 errichtet zur Erinnerung an die Dorstener Opfer des Krieges 1870/71, der Preußen den Sieg und Deutschland die Einheit brachte. Im 2 WK wurde Germania leicht beschädigt. Danach wurde das Standbild vom Sockel gehoben und weiter beschädigt. Die Tafel mit den Namen der Opfer ließ man verschwinden. Bitte stellt das ehrende Andenken wieder her. Macht Geschichte sichtbar. Stellt die Germania wieder auf!“ Unter der Tafel hängt noch ein Schild: „HAIR-PIRAT Young Style“.
Auf dem Marktplatz unterhalten sich zwei Frauen, die eine trägt eine schwarze Mütze mit weißer Schrift, auf ihrer Stirn steht in großen Buchstaben FUCK IT. Ich staune über den Bagger, der geduldig das alte Einkaufszentrum zernagt und wie ein riesiger Metalldrachen aussieht. Ich laufe durch das Stadtsfeld oder bis zum alten Proberaum, vorbei an den Ärztezentren, durch Reihenhaussiedlungen mit Schalke-Fahnenmasten im Garten und Katzen auf der Fußmatte. Vor ein paar Jahren bremste ein Polizeiwagen mit quietschenden Reifen neben mir.
„So was Dreistes habe ich noch nie gesehen“, rief ein Polizist und sprang aus dem Auto.
Ich sah mich um. Ich war der einzige Mensch weit und breit.
„Sie wissen gar nicht, worum es geht?“, fragte er entsetzt.
Ich schüttelte den Kopf. Der Polizist zeigte auf die Ampel. Ich hatte weder den Übergang noch die Ampel bemerkt und war einfach über die Straße gelaufen. Der Polizist wollte meinen Ausweis sehen und betrachtete ihn von beiden Seiten.
„Wohnort Berlin?“, fragte er und schaute mich dabei von oben bis unten an.
Ich nickte. Der Beamte setzte sich zu seiner Kollegin ins Auto, schlug ein dickes Buch auf und fing an zu blättern. Nach einer Weile stieg er wieder aus.
„Sie haben Glück gehabt“, sagte der Polizist und gab mir meinen Ausweis zurück. „Es ist nicht teurer geworden.“
Ich steckte den Ausweis zurück in mein Portemonnaie.
„Das macht dann fünf Euro“, sagte er. „Zahlen Sie bar?“
Immer wenn ich in Dorsten bin, ergreift mich eine Art Schreibzwang. Neben der Romanarbeit fange ich an, die Graffiti in der Unterführung abzuschreiben. Dorsten hat einige Schriftsteller hervorgebracht, die bekannteste ist Cornelia Funke. Man wird in Dorsten nie eine Straße nach mir benennen.
Auf Facebook unterhalte ich mich mit Tao Lin und empfehle ihm eine Übersetzerin für sein Schopenhauer-Buchprojekt. Dorsten ist ungefähr das Gegenteil von New York. Schreibknast nenne ich die Tage in Dorsten. Die Bezeichnung gefällt mir, sie klingt nach Arbeit, nach auf Montage sein. Dabei sind die Umstände äußerst angenehm. Wenn ich möchte, kann ich dreimal am Tag warm essen. Ich muss nicht kochen, nicht einkaufen, weder abräumen noch ans Telefon gehen. Ich bekomme auch keine Post. Dafür schreibe ich Seite um Seite. Meine Freunde machen sich allmählich Sorgen. Der Marquis de Sade hat fast sein gesamtes Werk hinter Gittern verfasst. Ich soll nicht so enden wie der Schriftsteller in Shining.
Am Tag meiner Abreise gehe ich ein letztes Mal zum Bäcker. Obwohl ich stets dieselbe Menge Brötchen kaufe, zahle ich jeden Tag einen anderen Preis. Als ich zurückkomme, steht mein Stiefvater in der Tür.
„Joyce N. hatte ihrem Sohn (6) Schuhe bestellt“, liest er mir einen Artikel aus der Bildzeitung vor. „Das Paket will sie im Hermes-Shop in der Dorstener Innenstadt abholen. Joyce N.: Ich war freundlich, hatte meinen Ausweis dabei und sagte, dass ich mein Paket abholen wolle, doch die Frau hinter der Theke antwortete: ‚Das geht nicht. Wir dürfen keine Päckchen an schwarze Menschen herausgeben.‘“
„Unglaublich!“, ruft meine Mutter. „Sogar das Fernsehen hat schon über den Fall berichtet.“
Der Hermes-Shop befindet sich in derselben Straße wie der Bäcker. Als Schüler hatte ich in dem Laden Hausverbot, weil ich beim Klauen eines Superheldencomics erwischt wurde.
Nach dem Frühstück verabschiede ich mich von meinen Eltern und rolle meinen Koffer zum Bahnhof. Der Zug steht schon zum Einstieg bereit. Ich steige ein, setze mich hin und klappe mein MacBook auf. Automatisch verbindet sich mein Computer mit dem elterlichen W-LAN. Ich rufe meine Mails ab und lese die letzten Tweets. Der Zug fährt los, die Internetverbindung wird schwächer und reißt nach einigen Metern ab.
Zuerst erschienen in „Eigentlich Heimat. Nordrhein-Westfalen literarisch“,
Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2014.
Siehe auch: Stendal Blast
Siehe auch: Steffen Stadthaus
Siehe auch: Literaten (lebende)
Quelle:
Homepage des Autors 2011, daraus Foto entnommen. – Online-Enzyklopädie Wikipedia (Aufruf 2018).