22. März: Die vollendete Zerstörung der gesamten Dorstener Innenstadt
Von Wolf Stegemann – Der Chefredakteur der „Hildesheimer Allgemeinen Zeitung“, Hermann Meyer-Hartmann, hatte bereits vor 1970 Zugang zu den geheimen Unterlagen der Royal Air Force (RAF) im britischen Verteidigungsministerium. Er fand u. a. die Einsatzbefehle zur Totalbombardierung der Innenstadt Dorsten am 22. März 1945 vom Tag zuvor. Demnach sollte Dorsten mit 100 Halifax-Bombern der 6. Gruppe, unterstützt von zwölf Lancaster- und zwölf Mosquito-Flugzeugen der 8. PF-Gruppe, angegriffen werden. Der Einsatzauftrag lautete: „To destroy enemy troops and supplies concentrated in town“ – Zerstörung feindlicher Truppen- und Nachschubkonzentrationen in der Stadt. Die Wettervorhersage: Klarer Himmel. Ausgezeichnete Sicht. Gelegentlich leichter Dunst. Die Angriffszeit ist auf H – 14.30 B.S.T. (britische Sommerzeit) festgesetzt. Zur gleichen Zeit sollten 227 Lancaster und acht Mosquitos die Stadt Hildesheim, 100 Lancaster der 3. Gruppe die Stadt Bocholt und 106 Halifax-Bomber der 4. Gruppe, unterstützt von zwölf Lancaster und zwölf Mosquito der 8. Gruppe, die Stadt Dülmen angreifen.
Im Hauptquartier der 6. Gruppe in Allerton Park Castle, Knaresborough in Nordt-Yorkshire, versammelten sich die Staffelkapitäne der 13. Staffel. Sie gilt als kanadische Gruppe, die mit Halifax- und Lancaster-Bombern ausgerüstet ist. Für die 8. Gruppe, die auch Dorsten bombardierte, sind die besten Besatzungen der RAF abgestellt. Ihre Maschinen sind mit modernen Radar- und Ortungsgeräten ausgerüstet. Die Bomberarmada, die Dorsten zerstörte, flog erst seit September 1944 Tagesangriffe. Ihr erster großer mit 140 Lancaster-Maschinen traf am 12. Dezember 1944 Witten an der Ruhr. Zuvor galt strikte Arbeitsteilung. Die Royal Air Force flog in der Nacht ihre Flächenbombardements, die Amerikaner, die davon nicht viel hielten, flogen am Tag zumeist die für die deutsche Rüstung wichtigen Ziele an.
Es war ein sonniger Frühlingstag, als die Bomben fielen
Gemäß dem Einsatzbefehl starteten am 22. März 1945 in High Wycomb (England) die 100 Halifax-Bomber der Royal Air Force, zwölf Lancaster und ebenso viele Mosquitos der 8. Pfadfindergruppe mit dem Auftrag, Dorsten in Schutt und Asche zu legen. In ihren Bombenschächten hatten sie Luftminen und Sprengbomben, darunter die berüchtigten „Wohnblockknacker“. Sie kamen von Norden her gestaffelt angeflogen und bildeten einen Kampfblock von 500 Metern Breite.
Die Dorstener glaubten noch, die Maschinen flögen nach Westen ab ins Ruhrgebiet, bevor um 14.14 Uhr das Inferno begann, das die Stadt in fünf Minuten in einem pausenlosen Gebrüll von Detonationen und Feuerbällen zerstörte. Die Flugzeuge warfen 377 Tonnen Bomben und 6,3 Tonnen Zielmarkierungsbomben ab. Der Rauch über der Stadt stieg 2.440 m hoch. Als die letzten Brände nach Tagen gelöscht werden konnten, behinderte fast kein Haus mehr die Sicht von einem Ende der Stadt zum anderen. Über 319 Menschen fanden den Tod, 700 Familien wurden obdachlos, die gesamte Straßenbeleuchtung war zerstört, die Straßen zu 92 Prozent nicht mehr vorhanden, die Gasversorgung zu 70 Prozent und die Elektroversorgung zu 50 Prozent ausgeschaltet, die Kanalisation zu 39 Prozent funktionsunfähig. Auf jeden Bewohner der Innenstadt entfiel eine Trümmermenge von 43,5 cbm (Dresden 39,7 cbm, Köln 16,8 cbm, Essen 15 cbm, Leipzig 7,1 cbm). Am 29./30. März rückten Kampfverbände der 9. US-Armee in Dorsten ein. Dabei starben 29 deutsche Soldaten und fünf Zivilisten.
Auch Amerikaner der 8. US-Flotte waren bei der Bombardierung dabei
Der Dorstener Journalist Jo Gernoth entdeckte Ende 2011 im Internet das Foto von alliierten Piloten vor einem Bomber des Zweiten Weltkriegs mit der Bildbeschreibung „Magness-Crew over a Daylight-Mission with Dorsten as MPI on March, 22th of 1945“. Dies belegt, so Gernoth, dass nicht nur Kanadier und Briten, wie bislang angenommen, an der Totalbombardierung Dorstens beteiligt waren, sondern auch Amerikaner der 8. US-Flotte. Dem nun identifizierten US-Bomber („Fliegende Festung“) gehörten an: Byron Magness als Kommandant, Co-Pilot Robert H. Dee Jr. als Co-Pilot und Samuel Arbuthnot als Navigator. Am 22. März 1945 steht auf der Briefing-Liste: Headquarters and Military Facilities in Dorsten, MPI („Main Point of Impact“), was so viel heißt wie Hauptangriffspunkt. Jo Gernoth konnte mit dem 89-jährigen Samuel Arbuthnot und dem Commander der 601 Squadron der Bombergruppe, Wally Blackwell, Kontakt aufnehmen. „Wir haben nicht gegen die Menschen am Boden gekämpft. Wir haben gegen das Böse gekämpft und ich würde es heute wieder tun“, sagt Commander Wally Blackwell, der immer noch selbst am Steuerknüppel sitzt. Logbucheintragungen von zurückgekehrten Piloten, die über Dorsten im Einsatz waren, geben Auskunft auch darüber, wie planmäßig und militärisch kalt gedacht wurde, nachdem sie Städte in Schutt und Asche gelegt hatten. An die Zivilbevölkerung dachten sie in diesen und anderen hier nicht veröffentlichten Logbucheintragungen nicht. (Übersetzung Dr. Helmut Frenzel):
22. März 1945: Heute flogen wir Nr. 31. Es läuft darauf hinaus, dass man sie an einer Hand abzählen kann. Wir bombardierten das Hauptquartier und die Baracken eines Armeelagers in Dorsten. Die Flak war mäßig und genau. Wir verloren über dem Ziel zwei Motoren durch Maschinenschaden. Wir sind mit zwei Motoren nach Hause geflogen (1 und 4). Ich habe noch nie so inbrünstig gebetet wie da. Ich weiß, dass wir es nur deswegen geschafft haben. Wir waren vier Stunden unter Sauerstoff. 6/500 G.P. 6/500 I.P. 6:30 Std.
22. März 1945: Einsatz Nr. 14, Ziel Dorsten, 6 1/2 Stunden, Bedeckung 2/10, 23.500 Fuß, Flak heftig und genau, fast 50 Einschüsse im Flugzeug als wir zurückflogen. Unser Co-Pilot flog etwa zu dieser Zeit einen Einsatz mit einer anderen Besatzung und unsere Besatzung flog nicht. Als sie irrtümlich ihre Bomben abwarfen, stießen zwei der RDX-Bomben unmittelbar unter dem Flugzeug zusammen und explodierten, wobei sie 5 Flugzeuge zum Absturz brachten. Der Co-Pilot kam heil heraus, aber war bis zum Ende des Krieges in Kriegsgefangenschaft. [POW = Prisoner of War, Kriegsgefangener]
Dorsten [Deutschland], 22. März 1945: Bombenlast 32 – 100 Pf. GPs. 2 – 500 Pf. Brandstoff. Außentemp. – 32 °C. Gesamte Flugzeit 6:25 Std. Zeitdauer unter Sauerstoff 0400 [4 Std.]. Unser heutiges Ziel war ein Hauptquartier der jerries [jerry = abwertende Bezeichnung für deutsche Soldaten im 1. und 2. Weltkrieg] und eine Truppenansammlung. 5 Minuten, nachdem wir das Ziel verlassen hatten, ging mir durch den Kopf: wie viele jerries haben wir getötet? Nebenbei bemerkt schießt die Flak immer genauer, aber nicht mehr so heftig.
Lynchmorde an Piloten in Wulfen – Täter beging nach 1945 Selbstmord
Drei Tage nach der Totalbombardierung der Stadt wurden am 25. März 1945 zwei im früheren RAD-Lager in Wulfen festgehaltene und bereits Wochen vorher abgeschossene kanadische und ein britischer Flieger gelyncht. Es handelte sich bei den Piloten um J. M. Jones, R. A. Paul und L. W. Brennan. Der dieser Mordtaten verdächtige SA-Lagerkommandant Assmann entkam zuerst nach Bückeburg und wurde nach Beendigung des Krieges von den Alliierten gesucht. Er soll im Gefängnis der Briten Selbtsmord durch Erhängen verübt haben.
Erste Bombardierung 1941 und folgende: 1943, 1944, 1945
Nicht nur am 22. März 1945 brachten alliierte Flugzeuge Bomben nach Dorsten. Die Bevölkerung war seit 1941 Bombenangriffen ausgesetzt. Die erste Bombardierung durch englische Flugzeuge war am 14. März 1941 gegen 23 Uhr im Ortsteil Hervest-Dorsten. Vier Sprengbomben wurden an der Straße „Am Sandberg“ abgeworfen. Getroffen und total zerstört wurde die dortige Holzbaracke. Die benachbarten Häuser wurden teilweise schwer beschädigt. Die ersten Todesopfer unter der Dorstener Bevölkerung durch Bomben waren: Bergmann Rudolf Kress, Am Sandberg 2 und Sohn Horst. Eine größere Sprengbombe ging in der Nähe der Wasserstraße nieder. Bei den Bombardierungen gab es Tote, Verwundete und Totalschäden. Die nachfolgende Auflistung informiert über Bombenangriffe im gesamten Amtsbereich Hervest-Dorsten:
Im Jahr 1943: 9. Januar: Wulfen und Dorsten (Baukholt, Feldmark I); 21. Januar Dorsten, Gahlener Straße (totale Zerstörung: Häuser Krietemeyer und van der Schoot), Luftmine in Lembeck-Wessendorf; 25. März: Dorsten-Hardt, Altschermbeck-Rüste, Wulfen; 26. März: Holsterhausen; 30. April: Dorsten, Feldmark/Siedlung hinter Maas-Timpert); 28. Mai: Dorsten, Feldmark (Siedlung hinter Maas-Timpert), Lembeck-Wessendorf; 23. Juni: Altschermbeck-Rüste; 10. Juli: Hervest (Zechensiedlung), 7. Oktober: Hervest, Orthöve (Hof Große-Voßbeck), Rhade; 10. Oktober: Altschermbeck, Hervest; 19. November: Dorsten.
Im Jahr 1944: 13. Mai: Dorsten; 14. Juni: Dorsten (Luftmine im Damm des Lippe-Seitenkanals gegenüber der Firma Gebr. Müller); 15. Juni: Dorsten (Gahlener Straße, Wess und Erwig); 21. Juni: Wulfen (große Flurschäden durch Spreng- und Brandbomben); 25. Juni: Wulfen; 1. Juli: Erle; 22. September: Dorsten (Hotel Altenburg, Angriff durch Tiefflieger); 27. September: Dorsten (Franziskanerkloster); 5. Oktober: Rhade; 7. Oktober: Dorsten (Hotel Altenburg, Tiefflieger); 9. November: Dorsten (Vestische Allee, schwere Zerstörung aller Häuser vor der Bahnunterführung), Hervest (Gemeindedreieck), Holsterhausen (Borkener Straße, Heinrichstraße); 23. und 27. Oktober: Altschermbeck.
Im Jahr 1945: 21. Januar: Hervest (Augustaschule, An der Landwehr, Im Harsewinkel), Holsterhausen (Marienstraße, Luisenstraße); 22. Februar: Holsterhausen (Bahnstrecke Hervest-Wesel), Straße Wulfen-Hervest (Angriff auf Fahrzeuge durch Bordwaffenbeschuss), Bahnstrecke Wulfen-Deuten-Rhade (Sprengbomben, geringer Schaden), 24. Februar: Hervest-Dorsten (Zeche, Wohnkolonie); Rhade (fünf Häuser an der Eisenbahnstrecke Rhade-Borken), 25. Februar: Holsterhausen (Fa. Paton); Hervest-Dorsten (Eisengießerei), Wulfen (Transportzug auf dem Muna-Gelände, drei Wohnhäuser, Gehöft Vennemann in Sölten), 3. März: Feldmark (Firma Stewing), 9. März: Dorsten (Franziskanerkloster, etwa 60 Tote, Militär- und Zivilpersonen); 11. März: Dorsten (mehrere Straße in der Innenstadt, viele Todesopfer); Dorsten-Hardt (Droste-Hülshoff-Straße, Hermannstraße), Hervest-Dorsten (Zeche Fürst Leopold, Josefsviertel); 12. März: Dorsten (Alter Postweg, Blindestraße, Ostgraben), Holsterhausen (Bombardierung Soldatenzug Gleisstrecke Haltern-Wesel um 11.30 Uhr, Tieffliegerangriff auf Truppentransportzug um 17 Uhr); 15. März: Hervest (Eisengießerei), Holsterhausen (Gartenstraße), 13. März: Dorsten: (Tieffliegerangriff auf Transportzug Nähe Bahnhof Dorsten); 19. März: Dorsten (Güterbahnhof, Munitionszug getroffen, dadurch Elsenbusch-Haus zerstört); 20./21. März: Innenstadt (viele Tote durch ständige Angriffe von Jagdbombern); 22. März: Dorsten (Totalzerstörung der Altstadt), Wulfen; 23. März: Dorsten, Erle; 28. März: Feldmark II (viele Todesopfer, in den Abendstunden besetzen Amerikaner Holsterhausen).
Insgesamt 5.600 Bombeneinschläge in Dorsten festgestellt
Etwa 5.600 Bombeneinschläge wurden in Dorsten nach den Luftangriffen vom 9. Dezember 1944 und 22. März 1945 festgestellt: Im Bereich der Innenstadt 3.300, Feldmark I und II 600, in Hervest (Bahnhofs- und Zechengebiet) 1.200, in Holsterhausen 800. Auf dem verhältnismäßig kleinen Gelände des Franziskanerklosters wurden etwa 140 Bombeneinschläge gezählt.
Ausstellung von Schülern des Gymnasium Petrinum 2015
„Erinnern an die Zukunft“ heißt das Projekt, mit dem Schüler des Gymnasium Petrinum auch mit der Bombardierung Dorstens befassten. Die Schüler begaben sich auf Spurensuch, befragten ihre eigenen Familien und veröffentlichten das Ergebnis im März 2015 in einer kleinen Ausstellung.
Stilles Gedenken der Kriegsopfer in Dorsten 2023
Am 22. März 2023 wurde der Bombardierung von Wulfen und Dorsten und der Opfer am 22. März 1945 gedacht. In Wulfen lud der Heimatverein zu einem stillen Gedenken an der Pfarrkirche St. Matthäus ein und in Dorsten eine Andacht in der St. Agatha-Kirche. Im Rahmen dieser Andacht trugen zwei Schüler des Gymnasium Petrinum einen zeitgenössischen Text aus der Agatha-Chronik vor, verfasst vom damaligen Pfarrer von St. Agatha, der die Zerstörung der Stadt selbst miterlebt hatte. Im Anschluss an die Andacht, lud die Dorstener Stadtführerin Petra Eißing zu einer öffentlichen Stadtführung auf den Spuren des zerstörten und wiederaufgebauten Dorstens ein.
- Obiges Crew-Foto: Sie waren am 22. März 1945 über Dorsten dabei: Magness- Crew – 601st Squadron. 945. – Vordere Reihe (v. l.) S/Sgt. Daniel M. O’Connell (Togglier), T/Sgt. James C. Oliver (Funk), S/Sgt. Bertram A. Ongly (Bordschütze), S/Sgt. Larry L. Nulf (Bordschütze); hintere Reihe: T/Sgt. William C. Williams (Bordingenieur), 1st Lt. Byron Magness (Pilot), 2nd Lt. Robert H. Dee Jr. (Co-Pilot), 2nd Lt. Samuel Arbuthnot (Navigator).
Quellen: Stadt (Hg.) „700 Jahre Stadt Dorsten“, Dorsten 1951. – Wolf Stegemann in RN vom 22. März 1984, vom 22. März 1985 und vom 22. März 1994. – Wolf Stegemann in „Dorsten nach der Stunde Null“, Dorsten 1986. – Jo Gernoth „Die Feuer regnen ließen“ in der WAZ vom 21. Oktober 2011. – 398th Bombardement Group Formation Chart Mission 174, 22 March, Target Attacked: Dorsten, Germany (auch Foto). – Hermann Meyer-Hartmann, Chefredakteur der “Hildesheimer Allgemeinen Zeitung”.