Letztes Spiel vor 30 Jahren – Fußball ohne Taktik und Konzept, aber mit Spaß
Das letzte Spiel haben sie vor 30 Jahren bestritten. Doch die Spieler von Blau-Weiß 72 Dorsten treffen sich noch heute regelmäßig und haben das 50-jährige Vereinsbestehen gebührend gefeiert. In der Bundesliga lieferten sich 1972 Bayern-München und Schalke 04 ein packendes Duell um den Meistertitel. Die deutsche Nationalmannschaft wurde zum ersten Mal Europameister. Klar, dass diese Fußball-Highlights auch in Dorsten gerne am Fernseher verfolgt wurden. Und bei diesen gemeinsamen Fernsehabenden kamen Fritz Kramer und ein paar Freunde auf die Idee, selbst Fußball zu spielen. Und zwar in einem eigenen Verein. Das war im April 1972 und es war die Geburtsstunde von Blau-Weiß 72 Dorsten. In der Bauerschaft Buschhausen zwischen Holsterhausen und Schermbeck war ein Acker, auf dem die Hobbykicker spielen konnten, und bald fand sich auch der erste Gegner. Am 19. April 1972 traten die Dorstener bei Gambrinus Marl an. „Ohne jede Taktik und Konzept“, erinnert sich Gründungsmitglied Gregor Schäpers in der „Dorstener Zeitung“. Ein 1:4 war die logische Folge. In den ersten beiden Jahren erlebten die Blau-Weißen72 nur Niederlagen, doch sammelten die Fußballer „unendlich viel Erfahrung“. Auch beim internationalen Turnier in Glanerbrug bei Enschede in Holland. Mit dem Finale hatte Blau-Weiß Dorsten 1974 und 1975 nichts zu tun. Aber sie bekamen den Fairnesspokal. Anfang der 1980er-Jahre wendete sich das Blatt. Der Verein ging nun auch häufiger als Turniersieger vom Platz. Ihren größten Erfolg errangen die Blau-Weißen im Jahr 1984 mit dem Gewinn der Stadtmeisterschaften der Dorstener Hobbymannschaften.
Spielorte waren Reken. Raesfeld, Borken, Velen, Heiden und andere
Die Truppe tingelte von Reken nach Raesfeld, spielte in Borken, Velen und Heiden und war auch im grenznahen Münsterland unterwegs. So kamen im Jahr viele Kilometer zusammen, die alle gemeinsam in ihren Pkw’s zurücklegten. Sie hatten auch markante „Typen“ in der Mannschaft. Beispielsweise mit Norbert Feldmann einen absolut furchtlosen Torwart, der beim Rauslaufen weder Feind noch Freund kannte. Er war der Nachfolger von Bernd Wölke, der in den Anfängen die Truppe mit viel Geschick vor noch höheren Niederlagen bewahrt hatte. Ein echter Eisenfuß alter Schule war Verteidiger Aribert Niechciol. Oberster Aktivposten im Team war aber Hans-Werner Gieseder der sich 1980/81 mit 54 und 1982/83 sogar mit 59 Treffern gleich zweimal die Torjägerkanone sicherte.
Gespielt wurde traditionell auf Asche. Da es meistens vor Ort keine Duschen gab, fuhr man eben dreckig nach Hause. „Meine Mutter war immer begeistert“, erzählt Gregor Schäpers der Lokalzeitung. Vor wichtigen Spielen wurde auch schon mal gemeinsam trainiert, ansonsten vertrauten die Blau-Weißen auf ihre „individuelle Fitness“ und die eiserne Regel: Vor dem Spiel nichts trinken – damit die Männer in der „dritten Halbzeit“ auch genügend Durst hatten.
Kurioses erlebten die Dorstener Hobbyfußballer zur Genüge: Vor einem Spiel mussten sie erst Kühe von der Weide treiben, bei einem anderen landete der Ball in der Windschutzscheibe eines Lkw. Und in Raesfeld schoss ein Blau-Weißer mit einem ungewollten, aber satten Volltreffer einen Zuschauer vom Baum. Gegen die „Profis“ aus Datteln, die zur Saisonvorbereitung einen Sparringspartner suchten, gab es mit 0:14 die höchste Niederlage der Vereinsgeschichte. Dafür erkämpfte Blau-Weiß Dorsten gegen die Betriebsmannschaft von Auguste Viktoria mit nur acht Mann ein 0:0. Fritz Kramer erinnert sich zudem an ein Spiel, das am Tag nach seinem Polterabend stattfand, als ihm die Kollegen einen Elfmeter schenkten, den er so vehement schoss, „dass der Torwart ihn mit der Mütze fangen konnte“.
Über die Jahre hinweg entstanden viele Kontakte und Freundschaften zu anderen Teams. Etwa nach Traben-Trabach an der Mosel, wo die Dorstener ihre Spiele immer mit einem Besuch des dortigen Weinfests kombinierten. 20 Jahre lang kannte das agile Team keine Sommer- oder Winterpausen. Es wurde ganzjährig durchgespielt, mit teilweise bis zu 40 Spielen im Jahr. Finanziert hat sich die Truppe komplett über Eigenmittel, freute sich aber auch, wenn Sponsoren mal einen Satz Trikots spendierten. Im Team stand die Kameradschaft an oberster Stelle. Da war es auch selbstverständlich, sich gegenseitig beim Umzug zu helfen oder bei der Hochzeit von Sportkameraden im Trikot an der Kirche Spalier zu stehen.
1992 wurde schweren Herzens der Spielbetrieb eingestellt
Als aber nur noch acht, neun Mann regelmäßig Zeit fanden, fiel 1992 schweren Herzens der einstimmige Beschluss zur offiziellen Einstellung des Spielbetriebs. Doch auch diesen Weg in die „dritte Halbzeit“ ging die Truppe gemeinsam und ist bis heute zusammen geblieben. „Das ist uns wirklich gut gelungen“, meinte Fritz Kramer zufrieden. Nun schon 30 Jahre ohne Ball treffen sich die Kicker alle zehn Jahre zu einem Jubelfest und haben das 50-Jährige in April 2022 mit 39 Personen gefeiert. Dazwischen verabreden sich die „Jungs“ regelmäßig, um gemeinsam die Spiele der Nationalmannschaft zu schauen oder spielen Tennis, und es gibt sogar immer noch die schon im Jahr 1972 gegründete Kegelgruppe.
„Auch wenn das aktive Hobby im hohen Alter nicht mehr möglich ist, sind wir ein Leben lang als Freunde zusammen“, sagt Fritz Kramer auch ein wenig stolz. Und er dankt denen, die den Jungs immer „frei“ gegeben haben: den Frauen.
Quelle: Horst Lehr: „30 Jahre nach dem letzten Spiel halten alle weiter zusammen“, entnommen der DZ vom 24. Juni 2022