Staat und Stadt bereicherten sich systematisch am jüdischen Vermögen
Von Wolf Stegemann – An dem in nationalsozialistischer Zeit geraubten („arisierten“) Besitz der Familie Perlstein und anderer Juden verdiente auch die Stadt Dorsten. Hildegard Perlstein wurde 1942 nach Riga deportiert und 1950 vom Amtsgericht Dorsten für tot erklärt. Ihre Schwester Franziska wanderte schon 1939 nach England aus. Das Finanzamt Gladbeck vollzog den gesetzlich vorgeschriebenen Beraubungsakt.
Nach dem Krieg beantragten die Erben Hildegard Perlsteins beim Landgericht Essen ein Wiedergutmachungsverfahren. Der Essener Rechtsanwalt Hermann Röttgen vertrat die Erbengemeinschaft. Das Verfahren, das von 1949 bis 1952 dauerte, richtete sich gegen die Bundesrepublik als Rechtnachfolgerin des Deutschen Reiches, vertreten durch den Oberfinanzpräsidenten Westfalen in Münster, der wiederum vertreten wurde vom Vorsteher des Finanzamts Gladbeck. Es ging um Rückerstattung von Grundstücken und beweglichem Vermögen. Das Gericht entschied am 28. August 1951, dass der deutsche Staat die drei Grundstücke der Hildegard Perlstein, darunter Lippestraße 57, an die Erbengemeinschaft zurückzugeben habe. Diese haben die Grundstücke dann an private Interessenten verkauft.
Widersprüche blieben bestehen
Nicht so reibungslos verlief das Entschädigungsverfahren beim beweglichen Hab und Gut der beiden Schwestern Perlstein, deren zurückgelassenes Vermögen von der Stadtverwaltung „sichergestellt und übernommen“ wurde. Hier gab es erhebliche Beweisschwierigkeiten. Dies teilte Amtsdirektor Dr. Walter Banke (Ordnungsamt 1/10-0-08, 812/51) am 11. Juli 1951 der Wiedergutmachungskammer beim Landgericht Essen mit. Die 1939 nach England ausgewanderte Franziska Perlstein machte den Besitz u. a. von Schmuck, Brillanten und goldene Uhren geltend. Stadtdirektor Banke wies darauf hin, dass nach der Auswanderung Franziska Perlstein deren Schwester im Haus wohnen blieb und andere Juden dort von den Behörden einquartiert wurden („Judenhaus“ zum besseren Zugriff bei der Deportation). Als die Gestapo Hildegard Perlstein und die anderen Juden im Januar 1942 zur Deportation aus dem Hause holten, um sie zum Güterbahnhof nach Gelsenkirchen zu bringen, versiegelte ein den Omnibus begleitendes SS-Kommando die Wohnung im Haus Lippestraße 57. Die Schlüssel wurden dem Finanzamt Gladbeck übergeben. Eine Woche später überließ das Finanzamt dem Amt Hervest-Dorsten alle in der Wohnung befindlichen Gegenstände zur „Verwertung und Taxierung“. Es wurde eine Niederschrift angefertigt, deren Ergebnis bei 647,04 Reichsmark lag. Dann wurde das gesamte Inventar versteigert.
Wertgegenstände in der Wohnung geblieben
Die ärmliche Inventarliste des Amtes stand im Widerspruch zu dem dem Landgericht vorliegenden Verzeichnis mit Teppichen, Rosenthal-Geschirr, Mahagoni-Möbeln, Kristallschalen und Meissner Porzellan. Dorstens Amtsdirektor Banke zu dem Widerspruch: „Das Amt Hervest-Dorsten hat in der Angelegenheit anweisungsgemäß und äußerst korrekt verfahren.“ Allerdings konnte das Amt nicht mehr belegen, wer Gegenstände aus der Besitz der eins vermögenden Familie Perlstein erworben hatte, da die Akten der Gerichtsvollziehers verloren gegangen waren. Mit dem Argument, dass die Gegenstände durch die städtische Versteigerung in anderen Besitz übergegangen waren, erkannte der Gemeindedirektor eine Wiedergutmachung durch die Stadt nicht an. Er vermutete schriftlich, dass die ausgewanderte Franziska Perlstein in einem großen Überseekoffer alles mitgenommen habe. Der Dorstener Stadtdirektor hätte aber wissen müssen, dass die auswandernden Juden keine Wertsachen mitnehmen durften, schließlich wollte sich der Staat am Vermögen der Juden bereichern. Rechtsanwalt Röttgen widersprach dem Stadtdirektor. Nicht diejenigen seien entschädigungspflichtig, die die Gegenstände erworben hätten, sondern die Behörden, die diesen „Tatbestand der schweren Entziehung“ des Vermögens verwirklichten. Franziska Perlstein betonte in London mit Nachdruck mehrmals, dass sie viel zu ängstlich gewesen sei, bei ihrer Auswanderung Schmuck und Wertgegenstände mitzunehmen. 1952 gab ein Kriminalpolizist zu Protokoll, dass alle Zimmer im Hause Lippestraße 57 voller Möbel gestanden hätten. Während der so genannten Reichskristallnacht 1938 seien an dem Haus lediglich Fensterscheiben eingeworfen und ein Spülstein in der Nähe eines Fensters zertrümmert worden. Möbel seien unbeschädigt geblieben. Mit diesem Protokoll endet der Aktenvorgang des Entschädigungsverfahrens über das bewegliche Vermögen der Schwestern Franziska und Hildegard Perlstein.
Quelle:
Wolf Stegemann „Beraubungspraxis“ in „Juden in Dorsten und in der Herrlichkeit Lembeck“, Dorsten 1989.