Belgische Besetzung III

185 Soldaten besetzten am 18. Februar 1923 Hervest und Holsterhausen

Belgischer Maschinengewehr-Zug an der Lippe

Von Wolf Stegemann. – Mit dem Wort „Ruhrkampf“ ist ein Begriff in die deutsche Geschichte eingegangen, der den Widerstand gegen die Besetzung des Ruhrgebiets durch Franzosen und Belgier benennt. Französische und belgische Truppen besetzten am 9. Januar 1923 das Ruhrgebiet unter dem Vorwand, Berlin sei mit seinen Reparationslieferungen im Rückstand. In den frühen Morgenstunden des 15. Januar 1923 rückten belgische Soldaten in Begleitung französischer Offiziere und einiger Panzerwagen von Kirchhellen kommend, in Dorsten ein. Sie fanden eine tote Stadt vor, denn die Bevölkerung hatte Türen und Fensterläden geschlossen. An der Lippebrücke machten die 30 Soldaten erst einmal Halt und nahmen in der Gaststätte Freitag Quartier. Die Verwaltung legte an diesem Vormittag gemäß der Direktive, passiven Widerstand zu leisten und keine Anordnungen der Besatzer zu folgen, ihre Arbeit zeitweise nieder. Holsterhausen und Hervest waren zu diesem Zeitpunkt noch unbesetzte Gebiete.

Im Gegensatz zu den Kolonien blieb das Dorf Holsterhausen unbesetzt

Zerstörter Warteraum Bahnhof Hervest–Dorsten

Dieser „besatzungslose“ Zustand hielt nicht lange an. Die Besatzer wollten den Zugriff auf die Zechen haben. Daher rückten sie am Sonntag, den 18. Februar 1923, morgens gegen 4 Uhr mit 180 Mann und fünf Offizieren über die Lippe und erweiterten das besetzte Gebiet. In Holsterhausen umstellten sie das Polizeikommissariat. Polizeikommissar Gustav Schulz, der schon in der Spartakisten- und Rotgardistenzeit aktiv war, wurde aus seiner Wohnung geholt. Ihm wurde eröffnet, dass von nun an Hervest und Holsterhausen besetztes Gebiet sei. Wohnungen, Hotels und Schulen wurden beschlagnahmt. Die Belgier rückten bis dicht vor das Dorf Holsterhausen, das im Gegensatz zu den Kolonien selbst unbesetzt blieb. Am Bahnübergang der Pliesterbecker Straße richteten die Besatzer in einem Bahn-Waggon eine Wache ein. Der Bahnhof Hervest-Dorsten wurde ebenfalls sofort besetzt. Am Tage, bevor der belgische Ortskommandant von Hervest und Holsterhausen, Kapitän Mertens, abgelöst wurde, verlangte er vom Polizeikommissar Schulz eine Bestätigung, dass sich Mertens Truppen anständig aufgeführt hätten. Als Schulz sich weigerte, wurde er mit Fußtritten traktiert und musste unter Bewachung zwei Stunden lang auf dem Hof der Wirtschaft „Calkum“ zwischen umherlaufenden Schweinen verbringen. Schulz sollte deportiert werden. Ihm gelang aber die Flucht durch das Fenster.

Scharfe Proteste der Einwohner blieben ungehört

Zwischenzeitlich erhoben die Gemeindevertretungen von Holsterhausen und Hervest gegen die rechtswidrige Besetzung ihrer Gemeinden scharfen Protest, was allerdings zu nichts führte. Der kommandierende General der Besatzungstruppen verfügte sogar eine erweiterte Grenzziehung, die weite Teile von Holsterhausen und Hervest-Dorsten in das besetzte Gebiet einschloss. Somit nahmen die beiden Bergarbeitergemeinden eine kuriose Sonderstellung ein. Die Zoll- und Passkontrolle verblieb an der Lippebrücke. Hinsichtlich des Handels und Verkehrs wurde Hervest und Holsterhausen als unbesetztes Gebiet behandelt. Alle Waren aus den Gemeinden, die für das besetzte Gebiet – also auch für Dorsten – bestimmt waren, mussten verzollt werden. Jede Person, die von Hervest oder Holsterhausen nach Dorsten wollte, musste ein Visum bei sich führen. Aus dieser unnatürlichen Lage ergaben sich große Schwierigkeiten, die schwer auf der Bevölkerung des gesamten Lippegebietes lasteten.

Belgier erschossen willkürlich den Bergmann Leo Sadecki

Es gab auch etliche Übergriffe der Belgier auf Privatpersonen. Auf der Lippebrücke wurden in der Nacht vom 23. auf den 24. Dezember 1923 zwei Kaufleute aus Gladbeck von einem belgischen Posten erschossen. An der Lippe in Hervest erschossen Belgier aus Willkür am

Passier-Ausweis Alma Groß-Blotekamp aus Hervest-Dorsten, 1923

10. August 1923 gegen 16 Uhr den Bergmann Leo Sadecki, der dort Ziegen hütete. Später, zum zehnjährigen Jahrestag dieses Vorfalls, wurde die verlängerte Scharnhorststraße in Hervest von den Nationalsozialisten in Sadecki-Straße umbenannt.

1924 wurden Holsterhausen und Hervest-Dorsten wieder geräumt

Die Londoner Konferenz über die Reparationen Deutschlands brachte Entspannung. Das Ruhrgebiet sollte wieder freigegeben werden. Jetzt beschäftigten sich die Dorstener und die Holsterhausener mit der bangen Frage, ob sie zum Ruhrgebiet zugerechnet würden oder nicht. Im September 1924 fiel die Zollgrenze und der letzte belgische Zöllner verließ die Stadt. Am 7. Oktober konnte die „Dorstener Volkszeitung“ wieder erscheinen. Holsterhausen und Hervest-Dorsten wurden am 10. Dezember 1924 endgültig geräumt. Dazu schrieb der bereits bekannte Polizeikommissar Schulz zehn Jahre später im Heimatkalender: „Der Feind selbst hat uns zwar geeint, aber wir waren wehrlos, passiv. Darum mussten wir den Ruhrkampf verlieren. So möge denn in jeder Zeit das deutsche Volk denken an die entsetzliche Schmach der Besatzungszeit und daraus für ewige Zeiten erkennen: Ein wehrloses Volk wird geknechtet! Werdet wieder wehrhaft!“

Siehe auch: Belgische Besetzung I


Quellen:  Anke Klapsing: „Der Griff nach den Zechen“ in Wolf Stegemann/Anke Klapsing (Hg.) „Dorsten zwischen Kaiserreich und Hakenkreuz“, Dorsten 1997. – Wolf Stegemann: „Holsterhausen im Umbruch. Kaisers Krieg und Weimars Not 1900-1933“ , Ökumenischer  Geschichtskreis Holsterhausen 2007. –

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