Letzter Recklinghäuser Bezirksrabbiner flüchtete 1938 nach Amerika
Von Wolf Stegemann – 1906 in Hamburg bis 1997 in Rochester/USA; Bezirksrabbiner 1934 bis 1938. – Das in Recklinghausen 1997 von der Stadt an die jüdische Gemeinde wieder zurückgegebene jüdische Schulgebäude, das ihr 1941 von den Nationalsozialisten weggenommen wurde, wurde 1997 als Begegnungszentrum für Kinder und Jugendliche in „Rabbi-Selig-Auerbach-Haus“ in Anwesenheit seiner Tochter Chana, die aus den USA anreiste, benannt. Selig Auerbach war der letzte Rabbiner in Recklinghausen und als Bezirksrabbiner auch zuständig für Dorsten und das jüdische Erholungsheim „Haus Bertha“ am Freudenberg zwischen Dorsten-Holsterhausen und Schermbeck.
Dr. phil. Selig Siegmund Auerbach entstammt einer der bedeutendsten Rabbiner-Familien in Deutschland, die viele Generationen lang in Halberstadt (Sachsen-Anhalt) wirkte, Wurzeln aber auch im fränkischen Fürth hat, das bekannt war für seine jüdisch-theologischen Hochschulen. Seine Eltern waren Josef und Rosa geborene Cahn. Der Vater wurde 1872 in Fürth geboren, seine Mutter 1885 in Hamburg. Die Eltern haben in Hamburg geheiratet, wo sie die Familie gründeten. Dort kam auch Selig als Erstgeborener zur Welt. Es folgten seine Geschwister Hermann (1908), Leah (1911). Jacob (1914), Gertrud, und Rachel (1921). Selig Auerbach studierte am Rabbinerseminar Berlin und an den Universitäten Marburg, Berlin und Würzburg. Seine Lehrer waren: J. Wohlgemuth, Moses Auerbach, Jechiel Weinberg, Samuel Grünberg. In Würzburg promovierte er 1931 mit dem Thema „Die rheinische Rabbinerversammlung im 13. Jahrhundert“. Von 1932 bis 1934 war er zweiter Rabbiner (Jugendrabbiner) in Würzburg und von 1934 bis zu seiner Emigration in die USA im Jahre 1939 Bezirksrabbiner von Recklinghausen.
1934 in Recklinghausens feierlich ins Amt eingeführt
Die jüdische Zeitung „Der Israelit“ berichtete über seinen Empfang in Recklinghausen am 15. Oktober 1934:
„Am Sonntag, den 7. Oktober, fand in der festlich geschmückten Synagoge zu Recklinghausen die feierliche Einführung des neu erwählten Bezirksrabbiners Dr. Auerbach, bisher Würzburg, statt. An dieser Feier nahmen zahlreiche Vertreter der Bezirks- und Nachbargemeinden, sowie der zuständige Kultusdezernent des Preußischen Landesverbandes, Gemeinderabbiner Dr. Galiner, Berlin, teil. Nach einleitendem Chorgesang begrüßte der Vorsitzende der Synagogengemeinde Recklinghausen, Herr Ludwig Hirsch, die erschienenen Gäste und den neu erwählten Rabbiner, dem er die Gefolgschaft der Gemeinde Recklinghausen versprach. Dem Preußischen Landesverband dankte Herr Hirsch für seine Bemühungen und die Opferbereitschaft, das konservative westfälische Bezirksrabbinat weiterzuerhalten und den Sitz nach Recklinghausen, der größten Bezirksgemeinde und dem ehemaligen Sitz des Rabbinats zurückzuverlegen. Sodann führte Gemeinderabbiner Dr. Galliner, Berlin, den neuen Bezirksrabbiner namens des Preußischen Landesverbandes in sein Amt ein. Er dankte zunächst dem bisherigen Bezirksrabbiner Dr. Köhler für seine Arbeit und wandte sich dann in herzlichen Worten Herrn Dr. Auerbach zu, dem er seine neuen Pflichten unter Hinweis auf seine im Elternhaus genossene Erziehung und seine Ausbildung eindringlich ans Herz legte.
Rabbiner Dr. Auerbach dankte in seiner Antrittsrede allen Instanzen für das ihm bekundete Vertrauen, stattete dann auch seinerseits dem bisherigen Rabbiner des Bezirks seinen Dank für die hingebungsvolle Arbeit ab und schilderte die vielfachen Aufgaben des Rabbiners in der heutigen Zeit. Er müsse Lehrer und Sozialarbeiter, Freund und Berater eines jedem sein. Um diese Arbeit voll leisten zu können, müsse der Rabbiner sich selbst treu bleiben, dürfe von der Gemeinde nichts verlangen, was er nicht auch selbst erfüllt. Es folgten Begrüßungsansprachen der Rabbiner der Nachbargemeinden sowie des Vertreters des Rheinisch-westfälischen Rabbinerverbandes. Die Feier/war von Gesängen des Kantors Mannsbach-Recklinghausen und Gesängen von Mitgliedern des Gelsenkirchener Synagogenchors umrahmt…“
1938 wurde die Synagoge niedergebrannt
Im Jahre 1828 erfolgte die Gründung einer jüdischen Gemeinde in Recklinghausen. Aufgrund des Zuzugs osteuropäischer Juden erreichte hundert Jahre später die Mitgliederzahl mit 700 ihren Höhepunkt. 1932 verließen viele Juden aus wirtschaftlichen Gründen die Stadt und Deutschland, so dass die Gemeinde wieder schrumpfte. Von 1903 bis 1922 und später von 1934 bis 1938 war Recklinghausen Sitz des Bezirksrabbinats. In nationalsozialistischer Zeit gelang es vielen Juden zu emigrieren, etwa die Hälfte verblieb in Recklinghausen. Im November 1938 wurde die Synagoge niedergebrannt, viele Gemeindemitglieder flohen nun in die Niederlande. 1942 wurden die verblieben Juden von Recklinghausen nach Riga deportiert. Nach Auflösung des dortigen Gettos im November 1943 wurde die noch lebenden Juden in die Konzentrationslager Auschwitz, Treblinka, Maidanek und Mauthausen verbracht.
Familie Auerbach floh nach der Pogromnacht 1938 in die Niederlande
Selig Auerbach heiratete 1934 in Recklinghausen Hilda Cahn, die 1911 in Würzburg geboren wurde. Das Ehepaar hatte vier Kinder: Chana (1937 in Recklinghausen), Ruth (1942 in Rome/GA), Nancy (1945) und Hilda. Dr. Auerbach ahnte bereits nach seiner Amtseinführung in Recklinghausen das Schlimme, das von den Nationalsozialisten kommen würde, wie er 1993 erzählte. Nach der Reichspogromnacht zum 10. November 1938 flüchtete er mit seiner Familie zuerst nach Holland, von dort nach Großbritannien, wo er, seine Frau und Tochter als Deutsche interniert wurden. Daher ging die Familie Auerbach 1941 in die USA. Dort war er orthodoxer Rabbiner in verschiedenen konservativen Gemeinden. Seine religiösen Lehrauffassungen standen oft im Widerspruch zu denen der Gemeindemitglieder. So reist Dr. Auerbach als Rabbiner von Gemeinde zu Gemeinde, wurde schließlich Rabbi in Alexandria/Virginia und von 1958 bis 1961 in Torrington/Conn., danach bis zur Pensionierung in Lake Placid/NY.
Zweimal besuchte er seine ehemalige Wirkungsstätte im Kreis
Mit seiner Frau kam er 1988 erstmal wieder in seine alte Heimat; ein zweites Mal 1993, wo er auch nach Dorsten kam. Dr. Selig Auerbach starb 1996 mit 85 Jahren in Rochester/NY, seine Frau im Jahr 2000 im Alter von 89 Jahren ebenfalls in Rochester. Die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Recklinghausen stiftet seit 2006 den Dr.-Selig-Auerbach-Preis in der Absicht, Schülern und Lehrern in ihrer Beschäftigung mit christlich-jüdischen Themen zu unterstützen. Weil Auerbach besonders der Umgang mit jungen Menschen am Herzen gelegen habe, sei die Auszeichnung nach ihm benannt worden. Der Preis wird jährlich vergeben. Die weiterführenden Schulen im Kreis Recklinghausen werden zu Beginn eines jeden Schuljahres angeschrieben, um Arbeiten im Sinne des Preises anzuregen.
Besuch des Jüdischen Museums Westfalen in Dorsten 1993
Bei seinem zweiten Besuch in Recklinghausen 1993 besuchte er auch das ein Jahr zuvor eröffnete Jüdische Museum Westfalen in Dorsten. Im Gespräch mit dem damaligen Vorstandsmitglied des Trägervereins, Wolf Stegemann, der ihn durch das Museum führte, schilderte Dr. Selig Auerbach die seelische Not, die ihn über Jahrzehnte hinweg umtrieb und ihm vermutlich bis zu seinem Tod keine innere Ruhe ließ. Er litt darunter, in nationalsozialistischer Zeit geflohen zu sein und überlebt zu haben, während so viele seiner nahen Familienmitglieder in Konzentrationslagern ermordet worden waren. Sein Vater starb 1943, seine Mutter ein Jahr später im KZ Theresienstadt, seine Schwester Leah 1944 in Hamburg, sein Bruder Jacob 1944 in Auschwitz, die Schwester Rachel 1944 ebenfalls in Auschwitz. – „Warum ich nicht?“ sagte der damals 86-Jährige. Da legte ihm seine Frau beruhigend ihre Hand auf den Unterarm.