Gen-Defekt: Niels lebt in einer Welt ganz ohne Farben
Wenn Niels, geboren 2005 in Dorsten, in den Spiegel sieht, dann sieht er sich nur in Grau. Dann müsste er sich erklären lassen, dass er braune Haare und braune Augen hat, seine Jeans blau und sein T-Shirt hellblau ist. Er würde es aber nicht verstehen, denn er hat nie Farben gesehen. Diese angeborene und seltene Erbkrankheit heißt Achromatopsie. Das Gen für diese vollständige Farbblindheit wurde erst 1998 von Forschern der Augenklinik der Universität Tübingen entdeckt und identifiziert. Rund 3.000 Menschen haben bundesweit diesen Gen-Defekt. Achromaten sind aber nicht nur farbenblind, sondern auch lichtempfindlich und haben eine Sehstärke von nur zehn Prozent eines Normalsichtigen. Das Schicksal Niels vor Augen, gründete der Rhader Augenarzt Dr. Olav Hagemann 2005 in Dorsten eine bundesweite Achromatopsie-Selbsthilfegruppe, die bereits 80 Mitglieder, darunter 31 Betroffene hat (Stand 2009). Neben Dr. Hagemann gehören zum Vorstand noch der Rechtsanwalt Volker Gerrlich aus Bochum, Klaus Fischer aus Castrop-Rauxel und Claudia Gerrlich. Dem wissenschaftlichen Beirat gehören Professorin Käsmann (Uni Homburg), Dr. Wissinger (Universitätsaugenklinik Tübingen) und Optiker Plum aus Herne an (Stand 2011). „Als Nils knapp drei Monate alt war, sind wir erstmals auf seine Erkrankung aufmerksam geworden“, erinnert sich der Vater. Indiz war das auffällige Augenzittern, mit dem das Auge versuchte, die Sehschwäche auszugleichen. Nach dem Verdacht einer Augenärztin brachte ein Gentest an der Uni-Klinik kurze Zeit später Gewissheit.
Brillen oder Kontaktlinsen können die eingeschränkte Sehfähigkeit durch Achromatopsie um keinen Deut verbessern. Trotzdem sind die Betroffenen im Alltag auf Spezial-Brillen mit zumeist roten Gläsern angewiesen. Gewöhnliche Sonnenbrillen können die Blendung nicht abhalten. Auch Fernsehen, Kino und viele Computerspiele sind nichts für Achromaten, da dies die Augen mehr blendet als sie unterhalten.
Trotz seiner Krankheit will Nils immer ein möglichst normales Leben führen. „Aus diesem Grund haben wir Nils in diesem Jahr auch auf einer ganz normalen Grundschule angemeldet», sagt sein Vater nicht ohne Stolz auf seinen Sohn. „Wir sind davon überzeugt, dass er dort seine Fähigkeiten in seinem gewohnten sozialen Umfeld besser entfalten kann. Denn um richtig mit der Krankheit umgehen zu können, muss er zwar akzeptieren, dass er sehbehindert ist. Allerdings muss er sich nicht behindert fühlen.“
Zur Sache: Die Krankheit ist von der weiter verbreiteten Rot-Grün-Blindheit zu unterscheiden. Letztere wird zwar landläufig auch oft als Farbenblindheit bezeichnet, aber sie schränkt die Sehfähigkeit nicht wesentlich ein, weshalb die meisten Menschen damit zurechtkommen. Bei der vollständigen Farbenblindheit dagegen beträgt die Sehfähigkeit nur noch zehn Prozent. Die Betroffenen können keinerlei Farben erkennen und nur Graustufen unterscheiden. Außerdem sind sie extrem blendempfindlich. Fachleute bezeichnen sie als Achromaten – etwa 3.000 gibt es in Deutschland. Generell unterscheidet die Medizin drei Formen der vollständigen Farbenblindheit. Die am weitesten verbreitete Variante dieser vererbbaren Erkrankung der Netzhaut ist die angeborene Achromatopsie. Eine ähnliche Erkrankung ist die Blauzapfen-Monochromasie. Wer daran erkrankt, kann zumindest im Blaubereich noch Farben wahrnehmen. Drittens kann die totale Farbenblindheit auch nach einem Schlaganfall, Schädel-Hirn-Trauma oder anderen Gehirnverletzungen auftreten. Im Gegensatz zur vererbten Farbenblindheit liegt die Ursache dann aber nicht im Auge selbst, sondern in der gestörten Verarbeitung der Farbwahrnehmung im Gehirn.
Quellen:
dpa – Deutsche Presse-Agentur, online 2009, aktualisiert 2010. – Homepage der Dorstener Achromatopsie-Selbsthilfegruppe 2011. – Foto: picture-alliance/dpa.