Mehr persönliche Freiheiten und Leben in einer besseren Rechtsform
Die soziale Stellung der Bewohner der frühen Stadt Dorsten war nicht wesentlich anders als die Sozialstruktur der ländlichen Bevölkerung in der Herrlichkeit. Es gab Freie und Unfreie, deren wirtschaftliche Betätigung in der Stadt mehr vom Handel und Gewerbe geprägt war, als dies auf dem Land der Fall war. Allerdings bewirkte dies eine rechtliche Besserstellung der städtischen Neubürger in Städten mit Stadtrechten. Die konnten Bindungen der persönlichen Unfreiheit ablegen und hatten mit der freien Erbleihe von städtischen Grundstücken eine günstigere Rechtsform des Grundbesitzes.
Ein Rechtsgebriff für Landbewohner in der Stadt: Stadtluft macht frei
Darin hat auch das Rechtssprichwort „Stadtluft macht frei“ seinen Ursprung. Wenn der bisherige Leibherr seine Rechte an den Leibeigenen nicht binnen Jahr und Tag geltend machte, war die Person, die vom Land in die Stadt gezogen war, frei. An die Stelle der Leibherrschaft trat dann die allgemeine Herrschaft des Rates und des Stadtherrn. Auch schuf das Stadtrecht neues Prozessrecht. Der Formalbeweis durch Eid oder gerichtlichen Zweikampf wurde abgeschafft und die Tatsachenermittlung durch sachkundige Zeugen eingeführt. Zu besetzende Stadtämter in Dorsten verteilten wenige patrizische Familien unter sich. Es waren überwiegend Kaufleute und weniger Handwerker, die die Oberschicht (Patriziat) und somit die Ämterschicht bildeten. Regierungsrat Billmann schrieb in einer Denkschrift von 1802 über die Bürger in den beiden Städten des Vests (Recklinghausen und Dorsten):
„Es gibt in den Städten nur Müßiggänger oder Gelehrte; die Söhne der beispiellosen Menge der Advokaten schämen sich, etwas anderes zu werden als ebenfalls gelehrte Männer, und die so genannten Ungelehrten, die vom kärglichen Ertrag ihrer Äcker leben können, tuen entweder gar nichts, oder, wenn sie davon nicht leben können, so werden sie Krämer und behalten ihre Äcker bei: […] so geben es in Dorsten und Recklinghausen nur kleine Höker, Tuchwebereyen, wovon im benachbarten Essen große Fabriken sind.“
Erst mit der wachsenden Zahl der Stadtbewohner und mit der immer deutlicher werdenden Besserstellung der Bürger gegenüber den Landbewohnern entstanden Probleme zwischen den Herrschaftsträgern der Städte (Landesherr, Bischof) und den Grundherrschaften (Adel), weil es etliche Personen gab, die Bürgerrechte hatten, ihren Wohnsitz aber auf dem Land, also außerhalb der Städte beibehielten (Ackerbürger, Pfahlbürger; die sprachliche Ableitung ist ungeklärt). Vielfach ergingen Erklärungen gegen das Pfahlbürgertum, das immer mehr zunahm, weil es den Städten Gewinn brachte. Abgeleitet hiervon ist der Begriff Spießbürger, der erst in der frühen Neuzeit einen abwertenden Beigeschmack bekam. Das Wort besagt, dass die städtischen Aufgebote überwiegend aus Bürgern bestanden haben, die zu Fuß kämpften und mit Spießen bewaffnet waren. Reiterdienste leisteten nur die Bewaffneten der patrizischen Oberschicht. Die innere Verwaltung war durch das vom Landesherrn gewährte Privilegienrecht geregelt, das später mit dem Satzungsrecht ergänzt wurde. So übte der Rat die innere Verwaltung, Verwaltung im Wirtschaftsleben, in der Bauordnung, im Feuer-, Gesundheits- und Sicherheitspolizeiwesen, im Befestigungswesen, bei der Bürgeraufnahme sowie bei der Besteuerung aus.
„Rechtlose“ Personen und unehelich Geborene waren keine Bürger
Für eine ganze Reihe von Personen gab es in der fest gefügten, gestuften Lebens- und Standesordnung des abendländischen Mittealters und auch in späteren Epochen weder Platz noch Bürgerrechte. Sie galten als „unehrlich“ und waren rechtlos. Zu ihnen gehörten alle, die außerhalb des christlich-abendländischen Gesellschaftsgefüges standen: Juden, Türken, Heiden, Zigeuner und Wenden. Zu den unehrlichen, rechtlosen, bescholtenen, besprochenen, ohnrechten, unechten, unredlichen, berüchtigten, beleumdeten, wandelbaren Leuten zählten aber auch die Leibeigenen, Unfreien und die unehelich Geborenen. „Unecht geboren“ sind nach der damaligen Rechtsordnung von 1416 „papenkindere“ und „wambordige“ (von verheirateten Männern außer der Ehe gezeugte) Kinder. Dem heidnischen Germanentum war die tiefe Kluft fremd, die christliche Sittenlehre zwischen das eheliche und das uneheliche Kind legt. Einen Makel der Unehrlichkeit hat es nicht gekannt; bei den Germanen fehlte ja auch der Grundsatz zur Einehe. „Unecht“ oder „echtlos“ hieß wörtlich: ehelos und bedeute zumeist soviel wie außer der Ehe geboren. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „echtlos“ ist allerdings „gesetzlos“, außerhalb des Gesetzes stehend. Uneheliche Kinder waren in Dorsten und anderswo „rechtlos“, das heißt unfähig zu gewissen gerichtlichen Handlungen. Unehelich Geborene konnten weder Richter, Urteiler, Zeuge, Vormund werden noch städtische Ämter bekleiden. Sie durften nicht Mitglied in den Handwerkszünften sein und waren nicht lehensfähig. Ehrlos in verstärktem Maße waren alle, die ihr Recht durch eine eigene Handlung verwirkt hatten. So jene, die der Friedlosigkeit (Todesurteil in Abwesenheit) und dem Kirchenbann verfallen waren, und jene, denen man eine körperlich zugefügte Bestrafung an „Haut und Haar“ ansah wie Brandmarken und Scheren des Haupthaares. Recht- und ehrlos machten auch Verurteilungen bei Notzucht, Ehebruch, Verwandtentötung und Meineid.