In Deutschland sind Hörspiele im Radio so beliebt wie somst nirgendwo
Das deutschsprachige Hörspiel wurde im Chaos geboren: Immer aufs Neue versuchte der Ansager am 24. Oktober 1924, das Programm des Senders „Frankfurt am Main auf Welle 467“ zu moderieren. Doch das ist ihm in der Radioproduktion „Zauberei auf dem Sender“ nicht vergönnt: Erst drängelte sich die Märchentante ans Mikro. Dann versagten alle Schalter. Plötzlich legten Orchesterinstrumente ohne Musiker von alleine los. Schließlich tauchte ein Zauberer auf, der sich mit diesen ganzen Streichen an dem Sender rächte, bei dem er nicht auftreten durfte. All das wurde an diesem Abend live on air übertragen. „Zauberei auf dem Sender“ war vor 100 Jahren Deutschlands erstes Hörspiel. In wohl keinem anderen Land der Welt ist diese Kunstform so populär.
„Was Hans Flesch gemacht hat, war buchstäblich visionär. Er hat alle Elemente eingesetzt, die auch heute noch im Hörspiel vorkommen“, erläutert Marcus Gammel. Er ist bei Deutschlandfunk Kultur der Abteilungsleiter für Hörspiel, Feature und Klangkunst: „Ich glaube, die große Konstante im Hörspiel ist die Stimme, das Sprechen, das Singen. Aber auch Geräusch und Musik waren schon in diesem ersten Hörspiel angelegt.“ Als Tonspur ist die Sendung nicht erhalten, es gibt nur das Manuskript.
Die vermutlich bekanntesten deutschen Hörspiele entstanden in der frühen Nachkriegszeit und sind mit Namen wie Ingeborg Bachmann, Max Frisch, Ilse Aichinger und Günter Eich verbunden. Heute sprechen Fachleute wie Hörspielkritiker Jochen Meißner vom Alten Hörspiel. In der Nachkriegszeit entstand in Westdeutschland eine Hörspiellandschaft, die ihresgleichen sucht. „Ich glaube, da hat die föderale Struktur in Deutschland eine große Rolle gespielt und eben die Landesrundfunkanstalten, die nach dem Krieg aus guten Gründen stark aufgebaut wurden“, sagt Gammel. Das Neue Hörspiel suchte am Ende der 1960er-Jahre neue Wege.
Generation der „Kassettenkinder“ mag Hörspiele
Während neue Technik bis hin zum Sampling der literarischen Kunstform neue Möglichkeiten eröffnete, begann in den 1970er-Jahren außerhalb des Kulturbetriebs leise eine Revolution. Kommerzielle Hörspielstudios wie Europa, Kiosk und Maritim richteten sich mit den drei ???, TKKG oder Bibi Blocksberg an junge Hörer. Die Chefin des Labels Europa, Heikedine Körting, erinnert sich: „Geradezu ideal war der Zeitpunkt für den Start der „Drei ???“-Hörspiele vor 45 Jahren im Herbst 1979.“ Im Gegensatz zu Kindern in den USA hatten die deutschen Kids damals noch keinen Fernseher und durften auch nur wenig TV gucken. Europa brachte Kassetten zum Kampfpreis von fünf D-Mark auf den Markt und nahm die Walkman-Mode mit. Die Generation dieser „Kassettenkinder“ liebt Hörspiele wie wohl keine andere vor ihr. Auch wenn öffentlich-rechtliche Hörspielmacher oft eine scharfe Trennlinie zwischen diesen Jugendklassikern und dem klassischen Funkstück ziehen, treffen sich beide heute bei Spotify und Co.
Quelle: RN (DZ) vom 24. Oktober 2024