Selbstmord und Christentum

Kirchenlehrer: Selbstmord von Gott gebilligt / Selbstmörder leugnen Gott

In der Bibel findet sich kein ausdrückliches Selbstmord-Verbot. Gleichwohl stimmen alle Kirchenlehrer seit Augustin in der Ansieht überein, dass Selbsttötung dem göttlichen Schöpfungsakt widerspricht, wie er in der Genesis 2, Vers 7 beschrieben ist: „Da bildete Gott der Herr den Menschen aus dem Staub der Ackerscholle und blies in seine Nase den Odem des Lebens; so ward der Mensch zu einem lebendigen Wesen.“ Unter Berufung hierauf heißt es in dem 1975 erschienenen Katechismus der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands: „Nach christlicher Auffassung hat der Mensch kein Recht zu einem solchen zerstörerischen Eingriff (dem Selbstmord), da er sich das Leben auch nicht selbst gab, sondern mit seinem Lebensauftrag von Gott geschenkt bekam.“ Noch entschiedener hat der 1945 im Flossenbürg erhängte Theologe Dietrich Bonhoeffer den Selbstmord verworfen: „Es gibt keinen anderen zwingenden Grund, der den Selbstmord verwerflich macht als die Tatsache, daß es über den Menschen einen Gott gibt. Diese Tatsache wird durch den Selbstmord geleugnet.“

Karl Barth: „Das Leben des Menschen gehört nicht ihm, sondern Gott“

Am ausführlichsten hat sieh Karl Barth. der große Schweizer Theologe und Initiator der Bekennenden Kirche, über den Selbstmord geäußert. Zwar bekennt auch er sich zu der für die christliche Selbstmord-Lehre zentralen Aussage: „Das Leben des Menschen gehört nicht ihm, sondern Gott“, doch betrachtet Barth den Selbstmord offenkundig nachsichtiger als Bonhoeffer. So hat Barth sehr ernsthaft die Ansicht in Betracht gezogen, dass ein in demonstrativer Absicht begangener Selbstmord gut und nützlich sein könnte. Wäre es nicht besser gewesen, meint er in seiner „Dogmatik“: Wenn Kaiser Wilhelm II. 1918 sich „statt nach Holland zu entfliehen, im nächsten besten Schützengraben an der Seite seiner Soldaten in akute Lebensgefahr begeben hätte? Wäre das nicht die notwendige Bewährung des vorher so oft und so laut gerühmten Ethos seines Hauses und des alten Preußens gewesen?“
Als einen Fall von politischem Selbstmord beschreibt Barth die biblische Geschichte von dem Kraftmenschen Simson, der in die Gefangenschaft der Philister geriet und von diesen geblendet wurde. Eines Tages, als er vor den Philistern „spielen“ sollte, riss er die Säulen des Palastes ein und tötete so sich selbst und seine Besieger. Barth dazu: „Simson hat mit vollem Bewußtsein zusammen mit den Philistern auch sich selbst getötet. Aber was wäre das für eine Exegese, die ihn deshalb mit Saul, Ahithophel und Judas (den von der Bibel missbilligten Selbstmördern) in einem Atemzug nennen würde? Simson war ein für unsere Begriffe sehr problematischer Heiliger. Aber das Alte Testament hat ihn nicht in den Schatten, sondern ans Licht gestellt.“

Über Selbstmord sollten sich nicht die entrüsten, die für Krieg sind

Barth schließt nicht die Möglichkeit aus, dass Gott selbst einem Menschen den Selbstmord befiehlt: „Wer will nun eigentlich wissen, dass Gott ein Leben, das ja ihm gehört. nicht auch einmal in dieser Form aus den Händen des Menschen zurückverlangen könnte.“
Zwar sei das eine „gefährliche Frage“, gesteht Karl Barth, doch sollten sich darüber auf jeden Fall nicht diejenigen entrüsten, „die, wenn es etwa um das Problem des Krieges oder der Todesstrafe geht, ohne viel Zögern zu der Feststellung bereit sind, dass es zum Töten anderer Menschen einen göttlichen Auftrag und Befehl geben könne“.
Dass es einen von Gott gebilligten Selbstmord gibt, war auch die Meinung älterer Kirchenväter wie Ambrosius, Hieronymus, Chrysostomus und anderer gewesen. Ambrosius zum Beispiel rühmte die heilige Pelagia, die sich mit anderen Frauen in einen Fluss stürzte, weil ihr Glaube und ihre Tugend von Feinden bedroht wurden. Erst Augustin hat dieser Ansicht erfolgreich widersprochen. Barth gibt ihm dabei recht: „Weder der Glaube noch die seelische, noch auch, recht verstanden, die leibliche Keuschheit dieser Frauen, konnte durch die Drohung fremder, sündiger Gewalttat so gefährdet sein, dass Selbsttötung in diesem Falle erlaubt und geboten sei.“ – Im Gegensatz hierzu hat Barth – wie im Falle Simson  – offenkundig den Selbstmord aus politischen Gründen gebilligt.

Siehe auch: Suizid – Selbsttötung (Essay)
Siehe auch: Suizid und Selbsthilfegruppe
Siehe auch: Sterbehilfe


Quelle: „Der Spiegel“ 36/1976

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