Missbrauchsfolgen

14-Jährige vom Stiefvater missbraucht: „Ich muss mit diesem Trauma leben“

Sophias Mutter erzählt vom sexuellen Missbrauch ihrer Tochter, von Gefühlen, Gerechtigkeit und der langen Zeit gerichtlichen Streits — „das war die Hölle“. Herbst 2021: Claudia Wagner (Name von der Redaktion geändert) zieht mit ihrer Großfamilie um, aus der Mietwohnung in ein Haus. In dem neuen Heim ist Platz für das Ehepaar, die drei gemeinsamen Kinder und das älteste Mädchen der Familie, das aus einer früheren Beziehung von Claudia Wagner stammt. „Mit meinem Mann habe ich mich gut verstanden“, erinnert sich die heute 41-Jährige – und fügt lächelnd hinzu: „Eigentlich war alles sehr schön.“ Doch das Lächeln der Recklinghäuserin hat etwas Gequältes, ja Trauriges – denn das Leben der Familie ändert sich wenige Monate später mit einem Schlag völlig: An einem Abend missbraucht der Mann von Claudia Wagner deren älteste, damals zwölfjährige Tochter sexuell. Claudia Wagner schluckt, streicht sich kurz die Haare hinter das Ohr. „Ich war in einem anderen Stockwerk des Hauses, als mir meine Tochter die Nachricht geschickt hat, dass sie Angst hat. Ich bin sofort zu ihr und Sophia hat mir erzählt, was mein Mann getan hat – sie an der Brust und Scheide angefasst, sie aufgefordert, seinen Penis zu berühren.“
„Ich war geschockt und angewidert“ Claudia Wagner hebt fast beschwörend die Hände, bevor sie weiterspricht. „Es war ein totales Gefühlschaos in mir, der völlige Wahnsinn“, erinnert sie sich. „Ich war geschockt und angewidert, völlig durcheinander, innerlich leer, wusste nicht, wo vorne und hinten ist.“ Dennoch folgt die Recklinghäuserin entschlossen dem Gedanken, der sie in diesem Moment beherrscht: „Ich habe meiner Tochter geglaubt und sie hatte Angst vor ihrem Stiefvater. Für mich war klar: Der muss hier sofort raus.“ Tatsächlich gelingt es der zierlichen Frau mit der Hilfe eines herbeigerufenen Freundes, dass ihr Mann das Haus verlässt, und das endgültig.

Sie bleibt aktiv, zieht sich nicht mit ihrer Tochter in die Opferrolle zurück

Ratsuche bei Kinderschutzambulanz, Jugendamt und Weißem Ring, Sperrung der Bankkonten, Kontaktaufnahme zu einem Anwalt – all das sind Stationen in den kommenden Tagen, die sie zusammen mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern bewältigt. Danach folgt eine lange und Kraft raubende gerichtliche Auseinandersetzung, die sich bis zum Juli 2024 hinzieht. „Das war die Hölle“, sagt die Recklinghäuserin mit Blick auf die vergangenen zweieinhalb Jahre. Jetzt stehen der taff wirkenden Frau die Tränen in den Augen.

Teenagerin muss sich dem Glaubwürdigkeitsgutachten unterziehen

Sechs Stunden lang sagt Claudia Wagner bei der Polizei aus, ihre Tochter Sophia wird eine Stunde lang befragt. Auch einem Glaubwürdigkeitsgutachten muss sich die Teenagerin unterziehen, um nachzuweisen, dass sie die Wahrheit sagt. Schließlich folgt die Anklage, ein erstes Urteil im Sommer 2023, eine rechtskräftige Verurteilung des Stiefvaters im Juli 2024. „Dass das alles so lange gedauert hat, das ständige Warten, das war unfassbar schwer durchzuhalten. Und das immer mit der bestehenden Unschuldsvermutung“, sagt Claudia Wagner. Warum hat sie den langen Kampf aufgenommen, wie hat sie ihn durchgehalten? „Es ging mir nicht um persönliche Rache gegenüber meinem Mann“, betont die 41-Jährige. „Ich habe es für meine Kinder getan. Ich zeige Sophia, dass ich ihr immer geglaubt habe, dass ich mit allen Poren hinter ihr stehe, für sie kämpfe und stark bin. Und auch für meine anderen Kinder möchte ich dadurch Vorbild sein – und sie schützen.“
Denn auch das Umgangsrecht des Vaters für seine drei leiblichen Kinder ist während der letzten zweieinhalb Jahren ein extrem belastendes Thema. „Er durfte die Kinder zweimal in der Woche sehen, begleitet unter der Aufsicht seiner Eltern. Natürlich hatte ich da große Angst – dass auch ihnen etwas passiert, dass auch sie missbraucht werden“, sagt Claudia Wagner. Einen Moment hält sie inne, dann schildert sie eine Szene, die sich oft wiederholt hat – und die immer extrem schlimm für sie war. „Wenn er kam, um die Kinder abzuholen, war ich jedes Mal wieder traumatisiert. Ich bekam einen Puls von bis zu 160, nur weil ich ihn gesehen habe.“ Und sie fragt: „Wenn das schon mit mir so viel macht, wie ergeht es dann erst meiner Tochter?“

Sophia wurde „total aus der Bahn geworfen“

Claudia Wagner holt tief Luft. „Jetzt muss ich mich schwer zusammenreißen“, sagt sie mit leicht stockender Stimme, während sie wieder mit den Tränen kämpft – bevor sie von ihrer Tochter erzählt. „Sophia hat der Missbrauch durch ihren Stiefvater total aus der Bahn geworfen, ,BÄHM aus dem Alltag gekickt‘, wie sie selbst sagt“, berichtet Claudia Wagner traurig. „Sie ist in den Noten abgesackt, hat inzwischen eine Psychotherapie hinter sich. Sie hat Alpträume und Flashbacks, bei denen das damalige Geschehen immer wieder aufflammt, sie es erneut durchmacht.“ Auch das seit Juli 2024 rechtskräftige Urteil bedeutet für Sophia keineswegs Besserung. Der Stiefvater wird da zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren sowie zu 200 Sozialstunden verurteilt, wegen „sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen“. Für die heute 15-Jährige ist dieses Strafmaß total ungerecht, wie sie ihrer Mutter vor unserem Gespräch sagt: „Ich wollte Gerechtigkeit für das, was er mir angetan hat. Ich muss für immer mit diesem Trauma leben. Und er macht ein paar Sozialstunden – und das war’s.“ „Sie muss damit leben, das hat sie richtig erkannt. Und das ist schlimm, nicht gerecht“, sinniert Claudia Wagner mit inzwischen rotgeweinten Augen über die Worte ihrer Tochter. Und mit Blick auf das Urteil fügt sie mit verständnislosem Blick hinzu: „Wenn sie den Staat um Geld bescheißen, bekommen Sie eine höhere Strafe, als wenn sie ein Kind anfassen.“ Auch für die 41-Jährige ist das Urteil keine Genugtuung. „Die werde ich nie erreichen, denn er hat nie das durchgemacht, was meine Tochter durchgemacht hat.“

„Die Unschuldsvermutung ist nun endlich vom Tisch“

Dennoch verspürt Claudia Wagner nun Erleichterung. „Das Urteil ist rechtskräftig und unanfechtbar. Es hat bestätigt, was ich von Anfang an wusste. Und die Unschuldsvermutung ist nun endlich vom Tisch. Es hat sich gelohnt, bei der Wahrheit zu bleiben und den Rechtsweg zu gehen, obwohl das extrem schwer war“, sagt sie und jetzt huscht ein leichtes Lächeln über ihr Gesicht. Fast zwei Stunden lang erzählt Claudia Wagner den Journalisten in der Redaktion von den letzten zweieinhalb Jahren – von dem folgenschweren Abend mit dem sexuellen Missbrauch, von den Belastungen, vor allem für Sophia, aber auch für sie selbst und ihre anderen Kinder, von Anfeindungen ihres Mannes, von dem sie inzwischen geschieden ist, von dem für sie unendlichen langen Rechtsstreit, von ihren Gefühlen und denen ihrer Tochter, auch vom Zusammenhalt der Familie, dem Erfolg ihres Kampfes vor Gericht. Es ist unübersehbar, wie anstrengend und aufwühlend das Gespräch für sie ist. Dennoch möchte Claudia Wagner „nichts unter den Teppich kehren“, wie sie betont. Sie hat sich bewusst an die Zeitung gewandt, um ihre Geschichte zu veröffentlichen. „Damit möchte ich anderen Betroffenen Mut machen, beim schambehafteten Thema sexueller Missbrauch nicht wegzusehen, das nicht hinzunehmen, sondern Anzeige zu erstatten, sich zu wehren. Es lohnt sich“, erklärt sie entschlossen. „Und ich möchte die Täter warnen – dass sie nicht so einfach davonkommen.“

Siehe auch: Missbrauch (Artikelübersicht)
Siehe auch: Missbräuche 2023
Siehe auch: Franziskaner-Missbrauchsstudie


Quelle: DZ vom 5. September 2024

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