Schwarzfahren

„Erschleichen von Leistungen“ heißt Schwarzfahren im Strafgesetzbuch

Wer bei der Nutzung öffentlicher Transportmittel keine Fahrkarte hat und die dann fälligen  60 Euro nicht zahlt, dem droht Gefängnis. Zwar hat der Bundesjustizminister angekündigt, Fahrten ohne Fahrschein zu entkriminalisieren – doch geschehen ist es bislang nicht. Ein Verein mit Sitz in Berlin hat derweil mit Spendengeld schon mehr als 1000 Menschen von der Tickethaft erlöst. Ein Beispiel: Dass Schwarzfahren kein Kavaliersdelikt in Deutschland ist, begreift Markus (Name geändert) fünf Jahre später, als ihm der Strafbefehl des Amtsgerichts Augsburg ausgehändigt wird. Es legte für ihn – gemessen an seinen finanziellen Möglichkeiten – 90 Tagessätze in Höhe von 30 Euro fest – also insgesamt 2700 Euro. Für Markus, ein Mann in schwieriger sozialer Lage, ist das eine astronomisch hohe Summe. Somit muss er die Ersatzstrafe „wählen“: drei Monate Gefängnis. Der 36-Jährige war 2019 zweimal in einer Augsburger Straßenbahnlinie ohne Fahrschein erwischt worden. Ein Ticket kostet 1,50 Euro. „Es entstand ein Gesamtschaden in Höhe von 3,00 EUR“, heißt es im Strafbefehl aus dem Jahr 2024. Mehr lag gegen den Mann nicht vor. Die Geldstrafe von zweimal 60 Euro konnte er nicht zahlen. Nach Anzeige durch die Verkehrsbetriebe begannen die Mühlen der Justiz zu mahlen.

Strafe für erschlichene Fahrten

Dass ein Mensch in der Justizvollzugsanstalt landen kann, weil er öffentliche Verkehrsmittel benutzt, ohne sich dafür einen Fahrschein zu kaufen, dafür sorgt seit seiner Einführung im Jahr 1935 der Paragraf 265a des deutschen Strafgesetzbuchs (StGB). Fahren ohne Ticket ist seitdem als „Erschleichen von Leistungen“ eine Straftat wie Gewalttaten oder Betrugsverbrechen.
Wer ohne Ticket angetroffen wird, muss häufig das „Erhöhte Beförderungsentgelt“ in Höhe von 60 Euro zahlen. Wer das nicht tut, kann mit einer Anzeige rechnen, letztlich dann auch mit einem Strafbefehl. Wer das Geld nicht aufbringen kann oder will, dem droht eine Ersatzfreiheitsstrafe bis zu einem Jahr. Aktuellen Schätzungen zufolge betrifft dies aktuell 7000 Frauen und Männer in deutschen Gefängnissen. Die „Beförderungserschleichung“ wird in den Statistiken als Massendelikt behandelt. Das Fahren ohne Fahrschein hat sich zum Volkssport gemausert, ist also eine der häufigsten Bagatellstraftaten. Im Jahr 2023 gab es 148.218 Fälle, die nach Paragraf 265a StGB verfolgt wurden. Das macht immerhin drei Prozent der Gesamtkriminalität in Deutschland aus.
Bundesjustizminister Marco Buschmann hatte zwar im Jahr 2023 eine Entkriminalisierung angekündigt. Doch mehr als ein Eckpunktepapier liegt derzeit (Stand: Mitte 2024) nicht vor. Das Fahren ohne gültigen Fahrschein sollte demnach fast 90 Jahre nach Einführung der Regelung unter den Nazis in Zukunft nicht mehr als Straftat behandelt werden, sondern nur noch als Ordnungswidrigkeit. Ob die Regierungskoalition angesichts ihrer derzeitigen Verfassung das Thema noch vor der Bundestagswahl 2025 anfasst, kann bezweifelt werden.

Was es dem Staat kostet, wenn ein Schwarzfahrer 60 Euro nicht bezahlt

Dabei hätte die Entkriminalisierung des Schwarzfahrens sogar einen finanziellen Einspareffekt, rechneten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen verschiedener Disziplinen FDP-Mann Buschmann in einem offenen Brief vom 6. August 2024 vor. Allein die Strafverfolgung von Schwarzfahrern koste den Staat jährlich „mindestens 114 Millionen Euro“. Ein Tag in Haft verursacht bundesweit etwa 200 Euro Ausgaben pro Gefangenem. Die Forschenden weisen darauf hin, dass vom Straftatbestand überproportional arme Menschen und solche in prekären Lebenslagen betroffen seien. „Wobei die Strafen – insbesondere aufgrund der hohen Zahl der verhängten Ersatzfreiheitsstrafen – für die betroffenen Personen schwerwiegende und unverhältnismäßige Konsequenzen haben.“ Dazu zählt der Wohnungsverlust. „Hinzu kommt, dass die Handlungen der Betroffenen nicht von krimineller Energie, sondern von faktischen Zwängen, etwa der Zahlungsunfähigkeit, zeugen.“

Umwidmung in eine Ordnungswidrigkeit wäre nur eine Scheinlösung

Die vom Bundesjustizminister angestrebte Umwidmung des Straftatbestands in eine Ordnungswidrigkeit wäre nur eine Scheinlösung, kritisierte der Richterbund. „Damit würden die Ordnungsbehörden als steuerfinanzierte Hilfstruppe für die Verkehrsunternehmen eingespannt“, hatte Bundesgeschäftsführer Sven Rebehn bereits Anfang 2024 Jahres erklärt. Die Justiz würde wenig gewinnen, weil die Fälle nach Einsprüchen gegen Bußgelder vielfach wieder vor den Gerichten landeten, fügte er hinzu. Der Richterbund plädierte vielmehr dafür, die Strafbarkeit des Fahrens ohne Fahrschein auf die Fälle zu beschränken, in denen die Täter Zugangskontrollen umgehen oder Zutrittsbarrieren überwinden. „Das einfache Besteigen von Bussen und S-Bahnen ohne gültiges Ticket ist hingegen kein Fall für den Staatsanwalt oder für die Bußgeldbehörde“, argumentierte Rebehn. „Ihre Zahlungsansprüche gegen die Kunden sollten die Verkehrsunternehmen durch verstärkte Kontrollen und Vertragsstrafen schon selbst durchsetzen“, forderte der Verbandsvertreter.

CDU: Neuregelung „Einladung zum Schwarzfahren“

Das sehen die geschädigten Kommunen sowie Verkehrsbetriebe oder -verbünde anders. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), in dem sie organisiert sind, beziffert die bundesweiten Einnahmeausfälle auf bis zu eine Milliarde Euro jährlich. Tendenz steigend. VDV und Deutscher Städtetag fordern unisono: Schwarzfahren soll Straftatbestand bleiben. Alles andere sei ein Irrweg, sagt Oliver Wolff, Hauptgeschäftsführer des VDV. Man dürfe zum einen nicht die Mehrheit derer vergessen, die für ihre Fahrten korrekt zahlten. Zum anderen schlügen die Einnahmeausfälle negativ bei Investitionen in Personal, Fahrzeuge und Infrastruktur ins Kontor. Wolff fordert eine sozialstaatliche ÖPNV-Ticket-Lösung für Menschen, denen die Fahrscheine aus Einkommensgründen zu teuer seien. Doch einheitlich ist die Ablehnungsfront gegen eine Reform, die laut einer Umfrage von Infratest dimap im Jahr 2023 von 69 Prozent der Deutschen unterstützt wurde, nicht mehr. Städte wie Köln, Düsseldorf, Karlsruhe, Bremerhaven, Bremen und Wiesbaden verfolgen aus Kostengründen Schwarzfahrende stellenweise schon seit Jahren nicht mehr per Strafanzeige. Zuletzt beschlossen Potsdams Stadtvertreterinnen und -vertreter diesen Schritt, wobei CDU und FDP dies als einen Freifahrtschein für alle bezeichneten. Die auch von anderen in der Öffentlichkeit kritisierten Widersprüche solcher Regelungen versucht CDU-Mann Lars Eichert so auf den Punkt zu bringen: „Ein kostenfreies Schülerticket bekommen wir nicht hin, aber eine Einladung zum Schwarzfahren schon.“

Vom Gefängnis befreit durch Spenden an den Vereins „Offene Tore“

Der eingangs erwähnte Markus konnte am 6. August 2024 die Haftanstalt verlassen. Nicht, weil er seine Strafe verbüßt hatte, sondern weil er freigekauft wurde. Freigekauft? Dafür sorgt der Freiheitsfonds des in Berlin registrierten Vereins „Offene Tore“. Er hat in den vergangenen zwei Jahren auf Antrag 1058 Menschen aus deutschen Gefängnissen geholt, die dort Ersatzfreiheitsstrafen fürs Schwarzfahren verbüßen. Mithilfe von Spenden wurden dafür bisher mehr als 933 000 Euro an die Justizkasse überwiesen und damit 195 Haftjahre „aufgelöst“, so der Verein. Kostenersparnis für die Justiz: 15,2 Millionen Euro.
Leonard Ihßen vom Freiheitsfonds sagt, der Paragraf verschärfe soziale Probleme und fördert Ungleichheit. „Nachweislich handelt es sich bei den Betroffenen um Menschen in prekären Lebenssituationen. So sind 87 Prozent arbeitslos, 15 Prozent ohne festen Wohnsitz und 15 Prozent akut suizidgefährdet.“ Der Verein dokumentiert Fälle von inhaftierten Menschen in dramatischen persönlichen Situationen wie den eines Gehörlosen, auf dessen Handicap der Knast gar nicht eingestellt ist. Oder den einer alleinstehenden Mutter von zwei Kindern, deren Tochter vor einem medizinischen Eingriff steht. Befreit wurden zuletzt aber auch eine im siebten Monat Schwangere aus Gelsenkirchen, die noch zwei Haftmonate vor sich hatte, und eine trans-Frau im Männergefängnis.

Wehen Überlastung der Justiz langer Verzug der Vollstreckung

Wird sich Minister Buschmann bald bewegen? Angeblich soll zeitnah ein Referentenentwurf aus dem Bundesjustizministerium kommen, heißt es. Die Verfasserinnen des offenen Briefes, die Kölner Kriminologin Nicole Bögelein und die Frankfurter Stadtgeografin Luise Klaus, dringen auf rasches Handeln. Sie sehen die einzig gute Lösung darin, Fahrpreise zu senken und Sozialtickets auszugeben, „um auch Menschen in prekären Lebenslagen die Teilhabe am ÖPNV zu ermöglichen“. Dass Markos Straftat erst fünf Jahre später geahndet wurde, ist übrigens keine Seltenheit, so Leonard Ihßen vom Freiheitsfonds. „Oft wird mit großem Verzug vollstreckt. Das liegt meist daran, dass die Justiz überlastet ist.“

Siehe auch: Vestische Straßenbahnen (Essay)
Siehe auch: Ausländerkriminalität


Quelle: RN (DZ) vom 25. August 2024

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