Wesel-Datteln-Kanal (Essay)

Lippe musste verlegt und Flussschleifen durchstochen werden

Wesel-Datteln-Kanal, Foto: JF

„Es ist ein hartes Schicksal für die uralte Stadt Dorsten, dass an ihrer Nordseite nun nicht mehr der lieblich gewundene Fluss zwischen freundlichen Ufern seine ruhigen Wasser zum Rhein trägt, sondern dass hier zwischen hohen Dämmen eine künstliche Wasserstraße starr und seelenlos hinstreicht.“
– Dr. Josef Wiedenhöfer, 1928

Von Wolf Stegemann – Im Jahre 1930 wurde das westliche Teilstück des früher bezeichneten Lippe-Seitenkanals zwischen Hamm und Wesel in einer Länge 60,2 km nach 14-jähriger Bauzeit und mit dem Einsatz modernster Technik fertig gestellt: sechs Kammerschleusen (Friedrichsfeld, Hünxe, Dorsten, Flaesheim, Ahsen, Datteln) aus eisernen Spundwänden erbaut, gleichen den Höhenunterschied von 40 m zwischen Datteln und dem Rhein bei Wesel aus. Der Kanal hat eine Wasserspiegelbreite von 34,5 m und eine Tiefe von 3,5 m. Damit können 1.350 Tonnen schwere Schiffe den Kanal passieren. Als erstes Schiff fuhr am 2. Juni 1930, etwa um 10 Uhr, der 1.300 BRT-Monopolschlepper „Vechta“ durch die Dorstener Schleusentore. An den Ufern des Kanals standen die Schüler, die an diesem Tag schulfrei hatten, um gemeinsam mit den Erwachsenen das erste Schiff zu begrüßen. Die offizielle Verkehrsübergabe des Kanals erfolgte anderntags. Die „Dorstener Volkszeitung“ berichtet am 4. Juni über dieses Ereignis:

„Nun ist die erste Fahrt auf dem Kanal gewesen. Oberpräsident Gronowski mit anderen Herren der Wasserbaudirektion Münster, Vertreter der staatlichen Kanalbaustelle Essen, des Dorstener Wasserbauamtes, von Industrie, Handel und Verkehr und Schifffahrt und die Bürgermeister von Dorsten und Wesel trafen sich mittags gegen 2.30 Uhr in Wesel und fuhren in einem großen Dampfboot auf Dorsten zu. Die Herren besichtigten eingehend die Schleusen in Friedrichsfeld und Hünxe, die die Reichsflaggen aufgezogen hatten. Nach vierstündiger Fahrt wurden sie von einer vielköpfigen Menschenmenge im Dorstener Schleppbetriebsamt, wo die Reichsflagge mit dem Reichsadler gehisst war, empfangen. Auf dem Zechenhof von, Fürst Leopold’ wehte die deutsche Handelsflagge. Die Besichtigung endete mit einer Zusammenkunft im Hotel Dehne in Dorsten.“

Aus 58 Millionen wurden 100 Millionen Reichsmark Bausumme

Der Kanal im Bau

Durchstich und Sprengung 1925; daneben eine verunglückte Lok

Aus der veranschlagten Bausumme in Höhe von 58 Millionen Reichsmark wurden schließlich nach Fertigstellung über 100 Millionen Reichsmark. Für den Kanal wurde die Lippe bis zu 4 km weiter nördlich verlegt, mehrere Flussschleifen wurden durch 2 km lange Durchstiche beseitigt. Insgesamt wurden 18 Millionen cbm Bodenmasse fortbewegt, alte Brücken gesprengt und neue gebaut, die 1945 den Bomben zum Opfer fielen. Bereits 1915 wurde das östlichen Teilstück des Kanals (Datteln-Hamm-Kanal) fertig gestellt.

Schiffe im Kanal wurden auf Grund gesetzt

In den letzten Kriegsmonaten wurden alle auf dem Kanal sich befindlichen Schiffe und Fahrzeuge versenkt. Sämtliche Brücken waren durch Bomben zerstört und lagen im Fahrwasser. Der Verkehr kam zum Erliegen. Gleich nach Kriegsende begannen 1945 die Aufräumarbeiten. Versenkte Schiffe wurden gehoben, Brückentrümmer aus dem Wasser geräumt, Schäden an den Böschungen ausgebessert und zuerst die Schleuse Friedrichsfeld wieder hergestellt. Im Oktober 1945 konnte der Kanal wieder mit Wasser gefüllt werden und nach Fertigstellung der Schleuse Friedrichsfeld wurde der Kanalverkehr zum und vom Rhein wieder aufgenommen. Schiffe beförderten 1939 auf dem Kanal fünf Millionen Tonnen im Jahr, 1947 waren es eine Million Tonnen, die schon ein Jahr später auf drei Millionen Tonnen anstiegen. Die Verkehrsentwicklung ging mit dem wirtschaftlichen Aufstieg voran. 1953 wurden mehr als sieben Millionen Tonnen befördert, ein Jahr darauf fast zehn Millionen. Bis in die 1970er-Jahre hinein waren alle Schleusen mit einer zweiten, kleineren Schleusenkammer von 112 m Länge und 12 m Breite für das Europaschiff ausgerüstet worden, um den gestiegenen Verkehr zu bewältigen. 1990 war der 1966 begonnene Ausbau des Kanalprofils abgeschlossen, 1992/93 wurden außerdem die Hubtore aller Schleusen ersetzt. In Dorsten gibt es zwei Durchschleusungen. Die kleine Schleuse hat eine Nutzlänge von 112 Metern und die große Schleuse von 223 Metern. Beide Schleusen sind 11,92 bzw. 11,98 Meter breit.

Bei Marl ist der Wesel-Datteln-Kanal am stärksten befahren

Schifffahrt auf dem Kanal

Schifffahrt bei Dorsten

1975 wurde mit der Erweiterung der Dorstener Stadtstrecke des Kanals begonnen, um den Kanal auf „europäische Maße“ zu bringen. Es ging um eine Verbreiterung von 34,5 auf 42 bzw. 47 Meter. Kurven wurden durch größere Radien entschärft, so dass Europaschiffe und Schubverbände in zügiger Fahrt mit einer Tragfähigkeit von 3.000 Tonnen den Kanal passieren konnten. Die Baustelle war vom Industriehafen Müller bis zur Schleuse drei Kilometer lang, die Bauzeit dauerte 18 Monate, es wurden 130.000 Kubikmeter Erdmassen und 25.000 Quadratmeter Böschungsflächen befestigt. Die Baumaßnahme auf diesen drei Kilometern kostete 15 Millionen DM. Im Raum Marl ist der Kanal unter allen westdeutschen Kanälen der am dichtesten befahrene sowie umschlags- und wachstumsstärkste. Seit 1993 ist eine Zunahme von 51 Prozent zu verzeichnen. – Der Kanal wird vom Wasser- und Schifffahrtsamt Duisburg-Meiderich verwaltet und von der Wasserschutzpolizeiwache Datteln und den Wachdienstgruppen Dorsten, Dortmund und Hamm überwacht.

Leichenfunde 2018 im Wesel-Datteln-Kanal bei Dorsten

Eine Spaziergängerin entdeckte am 22. September 2018 im Wesel-Datteln-Kanal bei Dorsten eine Frauenleiche. Nach den bisherigen Ermittlungen der Kripo geht die Polizei von einem Selbstmord aus. Der Fundort befand sich genau an der Stadtgrenze Dorsten und Marl, zwischen den Kanalbrücken Hervester Straße auf Dorstener Gebiet und der Straße Alter Hervester Weg auf Marler Gebiet. – Zwei Tage später, am 24. September, fanden zwei Spaziergängerinnen am nördlichen Kanalufer in Hervest-Dorsten, Höhe Raiffeisenturm am Hammer Weg, wiederum eine leblose Person treibend im Wasser. Die Taucherstaffel der Feuerwehr barg die Männerleiche aus dem Wasser. Bei den beiden Toten handelte es sich um ein Ehepaar aus Gelsenkirchen. Die Polizei ging davon aus, dass die Eheleute gemeinsam aus dem Leben geschieden sind.

Seit Jahren verschleppte Sanierung des Wesel-Datteln-Kanals

Schon seit Jahren beklagen Deutschlands Kanalschiffer den „Dauerstau“ auf dem Wesel-Datteln-Kanal – doch die Situation wird nicht besser. Gemeinsam mit der Industrie warnte Anfang 2019  der Bundesverband Deutscher Binnenschiffer (BDB) die Bundesregierung vor einer „logistischen Katastrophe“. Ein Kollaps der wichtigsten deutschen Wasserstraße nach dem Rhein würde der Volkswirtschaft Schäden in Milliardenhöhe zufügen. Die Rede ist von „Mangelverwaltung in höchster Vollendung“. Der Grund für die Misere ist vor allem der Verschleiß und die jahrzehntelang versäumte Sanierung der 80 Jahre alten Schleusenanlagen. Inzwischen steht das dafür notwendige Geld – vergleichsweise geringe 69 Millionen Euro – im Bundesverkehrswegeplan bereit. Doch beim zuständigen Wasser- und Schifffahrtsamt in Duisburg-Meiderich, eine Behörde, die dem Bundesverkehrsministerium untersteht, fehlten Ingenieure, um die Neuplanungen zügig umzusetzen. Der BDB beklagt, dass von der Feststellung des Bedarfs bis zur Verwirklichung eines Projekts 13 Jahre vergingen. Dieser Kritik schloss sich auch der Bundesverband der Öffentlichen Binnenhäfen an.

Viele Poller stammen noch aus der Kaiserzeit

Das Hauptproblem: Viele Poller in den sechs Schleusen des 60 Kilometer langen Kanals stammen noch aus der Kaiserzeit, sind marode und müssten dringend ausgewechselt werden. Die Schleusen können deshalb nur eingeschränkt genutzt werden. Auch der Verband der Chemischen Industrie NRW warnt vor einem Verkehrsinfarkt auf dem Wesel-Datteln-Kanal, ist doch der Chemiepark in Marl über die Wasserstraße angebunden. Die 20.000 Binnenschiffe, die den Kanal pro Jahr passieren, entsprächen einem Gütertransportvolumen von 1,8 Millionen Lastwagen oder 24.000 Güterzügen. Weder Schienen- noch Straßennetz könnten einen Ausfall des Kanals auffangen.

„Masterplan Binnenschifffahrt“ soll das Kanalnetz in Schwung bringen

Was Politik und Verwaltung in den letzten 20 bis 30 Jahren versäumt haben, soll jetzt der neu „Masterplans Binnenschifffahrt“ nachholen, für den das Bundesverkehrsministerium in den kommenden Jahren 1,2 Milliarden Euro ausgeben will. Damit soll das für Nordrhein-Westfalen so wichtige System Häfen-Industrie-Logistik wieder in Schwung kommen. Durch das Niedrigwasser des Sommers 2018 und das höhere Aufkommen kleinerer Schiffe sorgte dafür, dass der Wesel-Datteln-Kanal zum Nadelöhr wurde. Aufgrund der maroden Nischenpoller durfte nur ein Schiff nach dem anderen geschleust werden. So bildeten sich lange Staus, der Nachschub mit chemischen Grundstoffen stand vor dem Kollaps.

Sanierung der Kanäle kommt nicht in Gang

An den Bundesminister für Verkehr, Scheuer, gerichtet, wurden Mitte des Jahres 2020 Beschwerden von SPD-Bundestagsabgeordneten aus dem Ruhrgebiet laut. Denn die Stellenbesetzung bei der Wasserschifffahrtsverwaltung komme nicht in Gang. Damit werde die dringend notwendige Sanierung des Wesel-Datteln-Kanals auf die lange Bank geschoben. Rückblick: In der nächtlichen Bereinigungssitzung zum Bundeshaushalt 2020 am 14. November 2019 hatten die Haushälter und die Ruhrgebiets-Abgeordneten der SPD dem Verkehrsminister die Zusage abgerungen, dass 25 neue Personalstellen bei der Wasserschifffahrtsverwaltung im Jahr 2020 im Ruhrgebiet besetzt werden sollen. „Doch diese Zusage steht bislang als leere Versprechung da“, kritisiert jetzt Michael Groß, Sprecher der SPD-Bnndestagsfraktion aus dem Revier.

Problemfall Wesel-Datteln-Kanal

Der Wesel-Datteln-Kanal, der auch durch Dorsten führt, ist nach dem Rhein die meistbefahrene Wasserstraße in Deutschland. Sein Zustand, erbaut zwischen 1915 und 1930, ausgebaut 1966 bis 1990, gilt als schlecht. Sechs Schleusen, eine davon in Dorsten, und deren Nischenpoller sind dringend reparaturbedürftig. Der Schiffsverkehr ist daher beeinträchtigt. Seit Anfang 2019 sorgen Festmacher dafür, dass die Frachtschiffe beim Schleusungsvorgang manuell gesichert werden. Die rund 60 Kilometer lange Wasserstraße, die den Rhein bei Wesel mit dem Dortmund-Ems-Kanal bei Datteln verbindet, ist insbesondere für die Chemieindustrie von höchster Bedeutung. Vor allem der Chemiepark Marl mit seinen 10.000 Beschäftigten und jährlich rund 3,5 Million Tonnen Schiffsumschlag ist auf den Wasserweg angewiesen. Ein Ausfall der Wasserstraße, die jährlich von rund 20.000 Güterschiffen genutzt wird, würde nicht nur die Produktion in Marl gefährden, sondern auch ein Verkehrschaos auf den Autobahnen im Ruhrgebiet auslösen. In der Folge hatte die Politik die Sanierung des Kanals versprochen.

Siehe auch: Kanalhafen
Siehe auch: Yachthafen
Siehe auch: Wesel-Datteln-Kanal (Übersicht)


Quellen:
Josef Wiedenhöfer „Zur Jubelfeier der Abiturienten des Dorstener Gymnasiums“, Dorsten 1928. – Wolf Stegemann in RN vom 4. Januar.1983. – Ders. „Zur Eröffnung hatten die Kinder schulfrei“ in RN vom 9. Juni 1990. – Anke Klapsing in DZ (RN) vom 6. Mai 2000. – Thomas Bartel in DZ vom 14. März 2019 und 22. Juli 2020.

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