Wissenschaft: In Kirchen führte Schadensbegrenzung häufig zur Vertuschung
Die Kinderschutzkommission des Landtags NRW hatte das Thema „Gewalt im kirchlichen Raum“ auf der Agenda. Trotz der bisherigen Anstrengungen zur Aufarbeitung von Gewalt und Missbrauch im kirchlichen Bereich sehen Experten noch viel Handlungsbedarf – auch beim Gesetzgeber. Das geht aus zahlreichen vorab veröffentlichten Stellungnahmen für eine Sachverständigen-Anhörung im Düsseldorfer Landtag hervor. Dort beschäftigt sich die Kinderschutzkommission am 3. August 2023 mit dem Thema: „Gewalt im kirchlichen Raum.“ Mit viel Selbstkritik gegenüber der eigenen Institution und teils drastischen Beispielen schildern die Vertreter der katholischen und der evangelischen Kirche, Wissenschaftler sowie Beauftragte, die aus Gesprächen mit Opfern Einblicke haben, das Problemfeld: Was sind typische Risikofaktoren? Was begünstigt Missbrauch im kirchlichen Kontext? Das Fazit der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs zum aktuellen Stand in den beiden großen Kirchen fällt zunächst ernüchternd aus: Lange habe Schadensbegrenzung im Mittelpunkt gestanden, „die sehr häufig zu Vertuschung und der Versetzungsstrategie von Tätern“ geführt habe. Opfer seien „kirchenrechtlich-bürokratisch administriert“, meist zur Geheimhaltung verpflichtet und in der Regel sehr bescheiden entschädigt worden – wenn überhaupt.
Seelsorgeverhältnis: Missbrauch ins Strafgesetzbuch aufnehmen
Auf Bundesebene wurde inzwischen eine gesetzliche Verankerung der Aufarbeitungsstrukturen vorbereitet. Auch NRW brauchte aber ein Landesgesetz zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und zur konsequenten Entwicklung von Schutzkonzepten und Präventionsmaßnahmen. Auch andere Experten betonten in ihren Stellungnahmen die gesamtgesellschaftliche Herausforderung und den staatlichen Handlungsbedarf über die eigenen Aufklärungsaktivitäten der Kirchen hinaus. Die Katholische Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NRW forderte, Missbrauch im Rahmen eines Seelsorgeverhältnisses ausdrücklich im Strafgesetzbuch zu verankern.
Handlungsbedarf gebe es aber bei Weitem nicht allein im kirchlichen Raum, unterstrichen mehrere Sachverständige. Auch andere Bereiche wie der Sport, Schulen und die öffentliche Verwaltung müssten ihre Verantwortung anerkennen und angemessene Schutzkonzepte entwickeln und umsetzen, forderte der Interventionsbeauftragte im Bistum Essen.
Weitverbreitetes Klima der sexuellen Übergriffigkeit
Im kirchlichen Bereich fänden sich in Studien auch Hinweise, wie sich Gewalt, die von Erwachsenen an Schutzbefohlenen verübt werde, auf Jugendliche übertrage, berichtet die Leiterin der Diakonischen Fachstelle „Aktiv gegen sexualisierte Gewalt“, Marlene Kowalski. „Das bedeutet auch, dass sich ein Klima der Entgrenzung, Übergriffigkeit und Sexualisierung auf die Handlungsweisen zwischen Jugendlichen überträgt.“ Beispielhaft für das Wegschauen in Strukturen, in denen es „eine Kultur der sexualisierten Nähe und Übergriffigkeit“ gegeben habe, seien etwa Pfadfinder im jesuitischen Aloisius-Kolleg Bonn oder beim Verband Christlicher Pfadfinder. Die Grenzüberschreitungen seien begünstigt worden durch die Nähe: gemeinsam ums Lagerfeuer sitzen, zelten, gemeinsam im Wald sein. „Im Nachhinein haben Jugendliche, die zum Teil dann selbst betroffen waren, auch berichtet, dass sie erlebt haben, wie andere Jugendliche sexualisierte Gewalt erfahren haben, sie aber selbst nichts dagegen unternommen haben“, schreibt die promovierte Erziehungswissenschaftlerin. In Heimen oder Internaten sei auch eine Art „verordnete Mittäterschaft“ beobachtet worden. Teilweise seien Kinder und Jugendliche dort von Erwachsenen ausdrücklich aufgefordert worden, Gleichaltrige zu drangsalieren. So habe kirchliches oder diakonisches Personal seine institutionelle Macht- und Autoritätsposition dazu genutzt, Erniedrigungen und Herabwürdigungen zu übertragen.
Siehe auch: Missbrauch (Artikelübersicht)
Quelle: Bettina Grönewald in Ruhr-Nachrichten vom 9. Aug. 2023