Katholische Zustände Ende des 18. Jahrhunderts untersucht
Von Wolf Stegemann – Mit der Visitation verfolgten die Fürsten und Räte der Städte das Ziel, die Pfarrer und Prediger hinsichtlich ihrer Qualifikation für geistliche Aufgaben zu überprüfen, sich über die sittlich-religiösen Zustände der Gemeinden zu informieren und den kirchlichen Besitz aufzuzeichnen. Der Visitation unterlagen kirchliche Personen, Sachen, Orte und Anstalten. Seit dem 15. Jahrhundert wurden die Visitationen zunehmend von Beauftragten des Landesherrn durchgeführt. In der Reformationszeit waren die landesherrlichen Visitationen durchweg das Mittel zur Einführung der neuen Kirchenordnung. Vier Jahre vor der Säkularisierung des Fürstentums Köln, zu dem Dorsten gehörte, und Absetzung des letzten Fürstbischofs als Landesherr, sandte Kurfürst Maximilian Franz aus dem Hause Österreich, Kurfürst seit 1784, im Jahr 1797 einen „Commissarius Vestanus“ in das Vest Recklinghausen, um nachzusehen, wie die kirchlichen Zustände in den Gemeinden waren. Visitator war Pfarrer Johann Heinrich Wesener (1755 bis 1822), gebürtig in Dorsten.
Visitator Wesener ging in Dorsten zur Schule
Wesener besuchte das Gymnasium in Dorsten, studierte Theologie und Philosophie in Köln, war Benefiziat in Feldhausen, Pfarrer in Bottrop und seit 1784 in Recklinghausen. Am 31. Januar 1797 wurde er Erzbischöflich-kölnischer Kommissar für das Vest, 1805 Offizial. Er hatte eine konservative Grundhaltung, war ein eifriger Förderer des Schulwesens im Sinne der Aufklärung und galt als guter Seelsorger und Schulmann. Sein Vater (1721 bis 1793) war Notar und Prokurator am Dorstener Gericht, Landadvocat und kurfürstlich-kölnischer Hofrat, Patrimonialrichter sowie von 1756 bis 1761 Bürgermeister in Dorsten. Sein Sohn, Pfarrer Johann Heinrich Wesener, lenkte als Pfarrer in Recklinghausen seine Gemeinde mit hohem Ansehen durch die schwierigen Zeiten des Umbruchs zwischen Aufklärung, Revolution und Restauration. Das Bild von den Kirchengemeinden, das Wesener 1797 aufzeichnete, war bunt und abwechslungsreich, ein Bild, wie der Geschichtsforscher Adolf Dorider 1924 in „Vestische Heimat“ schrieb, „das von der Uniformität der Kirchenverhältnisse heutiger Zeit sehr absticht“. Mit heutiger Zeit meinte Dorider die Zeit Mitte der 1920er-Jahre. In den zurückliegenden 90 Jahren dürfte sich die Uniformität der Gemeinden noch wesentlich erhöht haben.
Auf 1.000 Katholiken fiel ein Seelsorger
Im Vest Recklinghausen gab es damals 21 Pfarreien, davon 13 im Obervest und acht im Niedervest (auch Untervest genannt: Dorsten, Polsum, Kirchhellen, Gladbeck, Bottrop, Horst, Buer, Osterfeld) sowie fünf Klöster (Ursulinen und Franziskaner in Dorsten, Karmeliter in Marl, Franziskaner und Augustiner in Recklinghausen). Das Franziskanerkloster in Dorsten hatte 61 Insassen. Sie übten neben dem Unterricht Seelsorge nur im angrenzenden Münsterland aus, nicht aber im Vest, worüber sich die Pfarrer mehrmals beschwerten. Die Ursulinen hatten 13 Schwestern, die im Schuldienst tätig waren. Die Zahl der Seelsorger stand 1797 in einem damals als günstig erkannten Verhältnis. Es gab 5.147 Häuser, 35.482 Kommunikanten (Erwachsene im kirchlichen Sinne) und 4.253 Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren Auf jeden Seelsorger entfielen rund 1.000 „Seelen“ (Katholiken). Im Bistum Münster hat heute ein Priester statistisch rund 2.120 Katholiken seelsorgerlich zu betreuen. Von den 917 Bistumspriestern sind allerdings nur 370 unter 60 Jahre alt (Stand 2010).
Pfarrgebäude waren auf Landwirtschaft ausgerichtet
Die Pfarrhäuser befanden sich Ende des 18. Jahrhunderts fast durchweg in einem schlechten Zustand. Sie waren meist aus Holz gezimmert, denen jede „Bauart und Festigkeit“ fehlte, so dass manche Gemeinden innerhalb von 30 Jahren mehrmals einen Neubau schaffen mussten. In einem besonders schlimmen Zustand waren die Pfarrhäuser in Dorsten, Recklinghausen und Ahsen. Da damals die Pfarrstellen mehr mit Ländereien ausgestattet waren als mit Kapitalien dotiert, waren die Gebäude mehr auf Landwirtschaft ausgerichtet. Das meiste Land der Pfarreien war 1797 bereits vermessen und mit Grenzsteinen ausgestattet. Über das Kirchenvermögen wurde Buch geführt, so dass die Pfarrer ihrer Gemeinden kein Vermögen mehr für private Zwecke entziehen und somit veruntreuen konnten. Im Visitationsbericht steht für Veruntreuung der Begriff „Verdunkelung“.
Bei freien Messen Völlerei verboten
Die kritisierten Kirchen boten dem bischöflichen Visitator durchweg ein schmutziges Bild. Die Pfarrer wurden angehalten, sich mehr um die Reinigung ihrer Kirchen zu kümmern und darum, den „aufmuckenden Pfarrkindern“ besser zu verdeutlichen, dass ihre angestammten und mit Namen bezeichneten privaten Plätze in der Kirche aufgehoben waren und nun jedermann überall sitzen konnte und durfte. Die Kirchen lagen eng von Häusern umschlossen. Da man die Toten um die Kirche bestattete, hatten die Anwohner die Gräber unmittelbar vor der Haustür. Unhaltbar waren die Zustände in Suderwich, Westerholt und Osterfeld, wo die Friedhöfe an den Kirchen keine Einfriedung hatten, Schweine und Hunde wühlten die Gräber auf und „förderten Leichenteile ans Tageslicht“. Aus diesen und vor allem aus hygienischen Gründen erließ die arenbergische Regierung auf Geheiß Napoleons 1807, dass Friedhöfe außerhalb der Gemeinden angelegt werden mussten. Allerdings erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist diese Anordnung allgemein verwirklicht worden.
Der Visitator richtete sein Augenmerk auch auf Vikarieen und Kirchenarchive, dem Aufbewahrungsort der Kirchenpapiere. Er stellte fest, dass viele Dokumente und Akten bereits durch Fäulnis und Schimmel verdorben waren, vor allem in Dorsten. Daher wurde vorgeschrieben, Kirchenarchive an einem trockenen, brandsicheren und für Mäuse und Ratten unzugänglichen Ort unterzubringen. Die bischöfliche Kommission unter Leitung von Pfarrer Wesener prüfte noch Feuerlöscheinrichtungen, die Gebühreneinnahmen der Pfarrer, das Prozessionswesen, wobei Wesener kritisierte, dass bei Messen unter freiem Himmel Essen und Trinken mehr im Vordergrund standen als „geistige Auferbauung“.
Pfarrern oft Missbrauch der Spenden vorgeworfen
Geistliche Gerichte waren damals bereits im Niedergang und in der Auflösung begriffen. Das stellte auch Wesener fest. „Vergehen leichten Charakters“, die das kirchliche Leben berührten, wurden damals noch durch geistliche Gerichte abgeurteilt und mit Geldstrafen belegt wie Trunkenheit, Störung des Gottesdienstes, Besuch und Offenhalten von Wirtshäusern während der Gottesdienstzeit, Schlägereien, leichtsinniger Umgang, kleine Felddiebereien, das Zurückhalten der Kinder vom Schulunterricht und die Verrichtung „knechtlicher Arbeiten“ an Sonn- und Feiertagen. Wesener fand heraus, dass die Pfarrer sehr zaghaft ihre Gerichtsbarkeit ausübten. Denn den Pfarrern und Schöffen machten diese Gerichtsverhandlungen stets argen Verdruss durch die Delinquenten und Beteiligten, so dass die Pfarrer kaum noch Schöffen finden konnten.
Auf das Medizinalwesen einer Gemeinde hatten die Pfarrer großen Einfluss, der ihnen später entzogen wurde. Doch damals empfahl Wesener den Pfarrern noch, sich strikt gegen abergläubische Mittel, die von Kurpfuschern und Hebammen verwendet wurden, zu sträuben, auch wenn „diese Leutchen auf dem Lande meist Anhang haben“. Meist oblag das Armenwesen der Kirche. Der Visitator stellte fest, dass es mit der ordentlichen Verbuchung von Erträgen und Ausgaben arg bestellt war. Oft warfen die Einwohner den Pfarrern Missbrauch vor. Wesener ermahnte die Pfarrer, die Armen nicht so sehr zu „beruhigen“, als sie „vielmehr für den Staat nutzbar“ zu machen
25 Peitschenhiebe für Bettelei
Wesener kümmerte sich auch um die Bettler. Nach damaliger Verordnung war das Betteln verboten. Wenn eine Amtsperson einen Bettler nicht zur Anzeige brachte, wurde die Amtsperson mit zwölf Goldgulden Strafe belegt. Der Bettler selbst erhielt bei erstmaligem Erwischen 25 Peitschenhiebe, die sich im Wiederholungsfall verdoppelten. Beim dritten Mal kam der Bettler in Haft und wurde dem Zucht- und Stockhaus zugeführt. Wer einem Bettler nur das Geringste gab, musste zwei Goldgulden Strafe bezahlen. Wenn Kinder bettelten, wurde diese zwangsweise in fremde Dienste gebracht.
Schule und Kirche waren damals eng miteinander verbunden. Für Schulen gab es eigene Visitatoren. Wesener nahm dennoch die Beschwerde der Pfarrer auf, dass ihnen Lehrer häufig Missachtung entgegenbrächten. Wesener überprüfte auch den „deutschen Volksgesang“ in der Kirche, der anstatt des lateinischen Gesangs in den Gottesdiensten eingeführt werden sollte (Vorgriff auf das Zweite Vatikanum 1962). Denn dem Volkstum auf kirchlichem Gebiet sollte mehr Geltung verschafft werden. Wesener fand den deutschen Volksgesang nur in wenigen Pfarreien vollständig durchgeführt vor, in einigen herrschte der lateinische unumstritten, so auch in Dorsten. Deswegen befürwortete der Kommissar, dass eine allgemeine Verordnung dies regeln sollte.
Im Visitationsbericht an den Bischof und Landesherrn, waren die Schwächen des Systems naturgemäß besonders hervorgehoben. Weseners Urteil über die vestischen Seelsorger ist kein hartes, wenn er zusammenfasst, dass er meist alle Pastoren „für das Gute gestimmt gefunden, und sich auf der rechten Seiten werden lenken lassen“. Der Geschichtsforscher Adolf Dorider kommt zu dem Schluss:
„Aus dem darauf folgenden Generalvisitationsrezess des Erzbischofs und Kurfürsten Maximilian Franz vom 14. Juli 1798 für die vestischen Pfarreien ist ersichtlich, dass Weseners Vorschläge und Anregungen zum Gesetz erhoben und für alle Pfarreien verbindlich gemacht wurden.“ (siehe Reformation/Gegenreformation).