Ein Streit mit ganz zufälligen Gegenwartsbezügen
Von Wolf Stegemann – Die den Dorstener Tabakfabrikanten 1755 auferlegten zusätzlichen Abgaben sorgten für einen handfesten Streit zwischen den Kaufleuten und dem Bürgermeister der Stadt Dorsten, D. Overbeck. Die Gegner der Tabakabgabe im Rat der Stadt unter Führung des Arztes Dr. de Weldige-Cremer hatten bei der Abstimmung eine Niederlage erlitten. Diese wollten sie nicht hinnehmen. Sie protestierten nicht nur nach der Abstimmung, sondern die Abstimmung führte zur offen Revolte. Die Tabakfabrikanten entließen anderntags alle ihre Arbeiter, meist halbwüchsige Jungen. Diese protestierten, aber nicht gegen ihre Chefs, die sie entlassen hatten, sondern zogen am 27. Januar 1755 zum Rathaus und holten den Bürgermeister mitsamt seinem Gefolgsmann, dem Gildemeister Funke, vors Haus. Die aufgebrachte Menge randalierte mit Stangen und Steinen und drohte dem Bürgermeister. Sie forderte von ihm Essen, da er sie um ihr Brot gebracht hatte.
Jugendliche drei Tage lang bei Wasser und Brot eingesperrt
Über diesen für den noblen Bürgermeister schrecklichen und „gröblich“ beleidigenden Vorfall berichtete er noch am Abend im schnell einberufenen Rat, der sich voll hinter Overbeck stellte. Die Jungen, die in der kleinen Stadt Dorsten alle namentlich bekannt waren, und die den Haufen anführten, wurden drei Tage lang bei Wasser und Brot eingesperrt, um über ihr Missetat in Ruhe nachdenken zu können. Zu den Dienstherren der Jungen schickte man einen Notar mit zwei Zeugen, der herausfinden sollte, ob die Entlassung und Revolte der Jungen eine Absprache gewesen sei. Darüber sagt das Protokollbuch des Rates aber nichts Weiteres aus. Die drei Tabakfabrikanten ließen sich durch die Polizeiermittlungen des Bürgermeisters nicht einschüchtern. Zwei Tage später verklagten sie den gesamten Magistrat der Stadt bei der kurfürstlichen Regierung in Bonn. Mit zu Herzen gehenden Worten beklagten sie, dass der Rat zwei arme Witwen und einen erst vor wenigen Jahren in die Stadt gekommenen Bürger vernichten wolle, obwohl sie durch ihre Tabakfabrikation zum Wohle der Stadt ganz wesentlich beitragen würden. Weiter schrieben sie, dass bei der Verarbeitung des Tabaks vornehmlich arme Kinder beschäftigt seien, die in Dorsten leider vorher auf der Straße herumgelungert hätten. Sie, die Tabakfabrikanten, hätte sie zu nützlicher Arbeit angehalten und zu Verdienst geführt. Ihnen, den Unternehmern, sei es auch zu verdanken, dass kein inländischer Tabakhändler „ins Ausland“ nach Köln reisen müsse, um Tabak einzukaufen.
Beschwerde an den Landesherrn mit Wirkung
Wie ein roter Faden zog sich die Beschwerde durch das Schreiben, dass von einer früheren Tabak-Akzise in der Stadt nichts bekannt sei, und dass der Rat durch die Einführung ein landesherzogliches Recht umgangen hätte. Die Beschwerdeführer erklärten, dass sie bei Genehmigung der Steuer die Tabakfabrikation einstellen müssten. Sie machten den Vorschlag, dass, wenn schon eine neue Steuer eingeführt werden sollte, diese alle Bürger betreffen müsste, und nicht nur eine bestimmte Gruppe. Zum Schluss ihres Schreibens baten sie den kürfürstlichen Landesherrn, einmal die städtischen Ausgaben zu überprüfen. Denn ihrer Meinung nach sei dort viel einzusparen. Dann baten sie den Kurfürsten um Schutz bei der Ausübung ihres Gewerbes.
Bürgermeister bat um Anerkennung der Tabaksteuer
Der Magistrat, dem die Beschwerde zur Stellungnahme zugestellt worden war, erwiderte am 4. Februar geharnischt auf die Vorwürfe der drei Tabakfabrikanten, über deren Vermögenslage er dem Landesherrn berichtete. Alle drei hätten beachtlichen Grund- und Kapitalbesitz, schreibt er. Zudem hätten weder Stadt noch der Kurfürst von den Fabrikanten Nutzen, nur sie allein hätten diesen. Auch wandte sich der Bürgermeister gegen die Darstellung der Kaufleute, diese hätten die Jungen von der Straße geholt. Man könne die Kinder nach wie vor um Almosen bettelnd an den Türen finden, denn, obwohl sie von sechs bis acht Uhr abends, also volle 14 Stunden, arbeiten müssten, verdienten sie nur anderthalb Stüber täglich. Die neue Steuer, so Bürgermeister Overbeck weiter, wäre so gering, dass sie das Produkt keineswegs verteuern würde. Auch erbrachte der Magistrat den Beweis, dass dies keine neue Abgabe sei, die man beschlossen habe, sondern sie sei in alten Heberegistern bereits aufgeführt. Über den Vorschlag der Fabrikanten, der Kurfürst solle die städtischen Ausgaben überprüfen, nahm Bürgermeister Overbeck nicht Stellung. Zum Schluss bat er in untertänigster Weise um Anerkennung der Tabaksteuer.
Mysteriöse Umleitung eines Briefes an die Landesregierung
Wenn der Magistrat hoffte, damit sei die Sache erledigt, irrte er. Denn am 20. März stand das Thema Tabaksteuer wieder auf der Tagesordnung des Rates. Wieder herrschte Hochspannung. Aufgeregt berichtete der Stadtsekretär, dass die Stellungnahme des Rates am 23. Februar mit der kaiserlichen Post nach Bonn abgegangen sei, aber sie ihm in einem fremden Umschlag mit der Anschrift des Arztes Dr. de Weldige-Cremer, Gegner des Bürgermeisters, durch die Post wieder zugestellt worden sei. Das war eine höchst verdächtige und mysteriöse Angelegenheit, die ein Licht auf die geheimen Fäden warf, die zwischen gewissen Regierungsstellen und der Dorstener Opposition im Magistrat gesponnen wurden. Der Rat überlegte, was zu tun sei. Er beschloss, sich bei einer Poststelle in Düsseldorf zu erkundigen, wie es zu dieser Briefverletzung kam und der Magistrat schickte die Stellungnahme noch einmal an den Landesherrn ab. Die Ruhe, die danach einkehrte, war nur oberflächlicher Art. Darunter schwelte der Streit auch mit persönlichen Diffamierungen weiter.
Keine Steuer, aber Überprüfung der städtischen Ausgaben
Was war aber mit der Steuer? Sie verschwand sang- und klanglos. Der Steuereinnehmer war wohl beauftragt worden, sie zu erheben. Tatsächlich aber ist nur einige Zeit hindurch im Ratsbuch verzeichnet worden, wie viel Rohtabak die Fabrikanten in die Stadt eingeführt haben, nirgendwo aber findet man eine Abrechnung über Eingänge der Tabaksteuer. Am 27. Juni 1755 lag dem Rat ein wichtiges Dekret aus Bonn vor, aus dessen Inhalt nur bekannt wurde, dass sich die Regierung zu einer großen Untersuchung der Dorstener Finanzen entschlossen habe. Für diesen Zweck wurden alle städtischen Rechnungen und Schatzungsverzeichnisse der letzten zehn Jahre angefordert und der Vestische Statthalter mit der Prüfung betraut. Vermutlich enthielt dieses Dekret auch die Ablehnung der Akzise. Jedenfalls brauchten die Dorstener Tabakfabrikanten die verhasste Steuer nicht bezahlen. Bürgermeister D. Overbeck büßte seinen Steuer-Eifer sicherlich mit einer merklichen Minderung seines Ansehens.