Unter Dorsten leben dreimal so viele Nager wie die Stadt Einwohner hat
Wolf Stegemann – Jedes Rattenpaar kann bis zu 5.000 Nachfolger zeugen. Davon berichten aktuell (2011) die Schädlingsbekämpfer in Paris. Die Stadt kann sich der Ratten kaum noch erwehren, die bereits im Elyséepalast des Staatspräsidenten gesichtet wurden. In Paris, so die offiziellen Schätzungen, kommen auf jeden Einwohner zehn Ratten (in Dorsten drei Ratten pro Einwohner). Uralte Ängste quellen aus Rinnsteinen und Kellerschächten – die Ratte als Vorbote von Katastrophen. „Am Morgen des 16. April trat der Arzt Bernard Rieux aus seiner Wohnung und stolperte mitten auf dem Flur über eine tote Ratte”, heißt es zu Beginn von Albert Camus’ berühmtem Roman „Die Pest“. Die meisten Franzosen haben das Buch in der Schule gelesen. Das tut dem Ruf der Ratte auch nicht gut. Ende 2011 blies die Polizeipräfektur Paris wieder zu einer großen Rattenjagd.
Etwa 300.000 Ratten unter der Stadt Dorsten
Man muss nicht weit gehen. Nicht nur am Gestrüpp des Westgrabens entlang oder zwischen Altstadt und Bahnhof oder an den Wegen der feuchten Gräben wie am Goldbrink, sondern in auf „ganz normalen Wohnstraßen“, wo Verkehr ist und Hunde Gassi gehen, da rennen die graubraunen Nager. Geht man von der wissenschaftlichen Schätzung aus, dass es in Deutschland rund 240 Millionen Ratten gibt, dann huschen und schwimmen unter der Stadt Dorsten wohl 300.000 Ratten umher, mehr als viermal so viele, wie es Einwohner gibt. Nur kennen Ratten keine Demografie. Immer häufiger lassen sich die Nager auch tagsüber sehen. Vor allem Müllcontainer hinter Supermärkten locken die Ratten an, ihre unterirdischen Kanalisationen zu verlassen.
Rattenart „Ratzilla“ hält Bradfords Einwohner in Atem
Lassen sich zu viele Ratten tagsüber in Wohngebieten sehen, ist die Stadt gefordert, durch Gift oder sonstige Tötungen die Rattenplage zu beenden. Immer wieder taucht dieses Problem im Stadtgebiet Dorsten auf, aber auch in den Nobelvororten von Mailand (3 Millionen Ratten) oder Moskau. In Bradford/England hält jetzt wieder die ausgestorben geglaubte Rattenart „Ratzilla“ die Bewohner in Atem. Diese Rattenart bringt es auf eine Kopf-Rumpflänge von 70 cm. In Dorsten schrecken immer wieder Nachrichten auf, dass in diesem oder jenem Kindergarten Ratten durch die Toilette gekommen sind, in Miethäusern in Barkenberg bis in das vierte oder noch höher gelegene Stockwerk.
1951 sichtbarer Atem von 1.000 Ratten
Im November 1951 musste die Stadt Dorsten den „Rattenfänger“ Hans-Joachim van Loosen aus Dinslaken beauftragen, die Rattenplage an der damals an der Marler Straße bestehenden Müllkippe und den benachbarten Grundstücken zu beenden. Als der Stadtrat ihm den Auftrag zur Ratten-Bekämpfungsaktion erteilte, suchte er zunächst das „Hauptquartier“ der Ratten an der Marler Straße auf. Den erstaunten Verwaltungsvertretern zeigte van Loosen den sichtbaren Atem der über 1.000 Ratten. Denn bei kalter Witterung stieg der Atem der Ratten wie Rauch aus den Gängen, wie die „Dorstener Volkszeitung“ berichtete. Dorsten und der Amtsbezirk Hervest-Dorsten war dem Schädlingsbekämpfer nicht unbekannt. Zuvor hatte er die Gemeinde Erle von ihrer Rattenplage befreit. Das ganze Dorf war von Ratten verseucht gewesen. Dutzendweise schlugen die Bauern die gefräßigen Nager tot. Oftmals wurde ohne Erfolg Gift ausgestreut. Nachdem der Schädlingsbekämpfer in Aktion getreten war und auf den Höfen bis zu 70 tote Ratten gezählt worden waren, war die Rattenplage in Erle beendet.
Ratten hatten paradiesische Zustände
Auf der Müllkippe an der Marler Straße hatten die Ratten paradiesische Zustände. Mit Fleischabfällen, Geröll und Abfall wurden die Allesfresser geradezu gemästet. In jedem der unzähligen Rattengänge der Müllkippe lebten rund 150 Ratten. Vergiftetes Mehl, das innerhalb von zehn Minuten wirkte, wurde über die Müllhalde verstreut. Auch in Simsen und Ecken der Kanalisation wurde Gift ausgelegt, weil bekannt war, dass die Ratten bei ihrem Marsch durch das Kanalisationssystem so genannte Rastplätze einnehmen.
Ratten gewöhnen sich an Giftköder
Die Rattenplage war innerhalb kürzester Zeit eingedämmt. Es war nicht die erste und auch nicht die letzte. Hans-Joachim van Loosen blieb Dorstens Rattenfänger rund 50 Jahre lang. Im Laufe dieser Zeit musste van Loosen den Ratten immer ein Stück vorweg sein, denn die Tiere gewöhnten sich mitunter an Giftköder oder gingen ihnen aus dem Weg. Noch 1996 entwickelte er einen Ködertyp und testete ihn auf Bauernhöfen. Mit Hilfe dieses neuen Giftködertyps konnten innerhalb eines Tages gleich 30 bis 40 Ratten getötet werden. Als sich Anleger der Straße „Holtstegge“ in Holsterhausen über eine zunehmende Rattenplage beschwerten, die Ratten kamen aus der Kanalisation, setzte van Loosen 1996 seinen neuen Gifttyp ein und mit einem städtischen Entsorgungsfahrzeug wurde das Gift an mehreren Stellen in die Kanalisation verbracht.
Experten sind in Sorge
Zahlreiche Ratten sind inzwischen mutiert und resistent geworden gegen die alten Giftköder. Derzeit werden sie mit der einzigen Wirkstoffgruppe bekämpft. Mit Blutgerinnungshemmern, die sie langsam innerlich verbluten lassen, nach Tagen erst, weil die schlauen Tiere das Futter sonst verschmähen würden. Inzwischen sind von acht erprobten Rattenbekämpfungsmitteln fünf nicht mehr wirksam, sagt die Biologin Alexandra Esther, die am Julius-Kühn-Institut in Münster Resistenzen erforscht, Bislang hat sie die resistenten Tiere vor allem in Nordrhein-Westfalen lokalisiert. Sie geht davon aus, dass sie sich weiter verbreiten. Der Rattenbeauftragte in Hamburg, Achim Hoch, begegnet dort Ratten in der Größe von Kaninchen, die samt Schwanz einen halben Meter messen. Ratten sind wegen der Essensreste gerne bei den Menschen bzw. unter ihnen. Es gibt sie in Kindertagesstätten, weil dort oft Nudeln die Toilette hinuntergespült werden. Immer wo Ratten auf Essensreste stoßen, sehen die intelligenten Tiere nach, ob es an der Quelle dieser Essensreste noch mehr gibt. Aus der Kanalisation sind Ratten nicht mehr zu vertreiben. Aufgabe der modernen Rattenfänger ist es deshalb, zu verhindern, dass Ratten auf der Straße herumlaufen. Was tut man, wenn tatsächlich mal eine Ratte aus der Kloschüssel guckt? „Spülen“ sagt Achim Hoch, „spülen, bis sie wieder unten ist.“
Erneut Ratten in der Innenstadt gesichtet
Mitte 2011 waren Ratten in der Innenstadt erneut auf dem Vormarsch und hatten bereits durch den Bau von Höhlen Straßen und Bürgersteige untergraben, vor allem sichtbar in der Gordulagasse. Verantwortlich für die zunehmende Zahl der Nager sind vor allem aber die Bürger, die Speisereste durch ihre Toiletten spülen, statt sie in die Mülltonne zu werfen. Das zieht die Ratten an, denen in der Kanalisation das Fressen wie im Schlaraffenland ins Maul schwimmt. Im November 2015 wurden in einem Verschlag mit Müllcontainern an einem Geschäftshaus am Südwall mehrere Ratten gesichtet, die sich dort tummelten. In einem solchen Fall ist der Grundstückseigentümer verpflichtet, Abhilfe zu schaffen. Fachleute sind der Meinung, dass eine von Zeit zu Zeit überbordende Rattenplage in Dorsten hausgemacht sei. „Solange Speisereste oder halb leere Trinkflaschen in Grünanlagen geschmnissen werden, kommen auch weiterhin die Ratten“ (DZ vom 26. November 2015). – Im Jahr 2015 ging auch die Stadt Recklinghausen verstärkt gegen die vermehrte Rattenplage vor und stellte dafür 70.000 Euro in ihrem Etat zur Verfügung. Die Rattenplage in Dorsten wird immer sichtbarer. Man spricht dann von einem „Wahrnehmungsphänomen“. Wenn zum Beispiel im Herbst die Felder abgeerntet sind, suchen die Ratten ihre Nahrung in den Wohnbezirken der Menschen. Dann werden sie von den Bewohnern vermehrt sichtbar. Schätzungsweise gibt es in Dorsten gemäß der Einwohnerzahl rund 300.000 Ratten. Dazu gehören nicht nur die Feldratten, sondern auch die sogenannten Kanalratten, die sich in den Abwasseranlagen der Stadt aufhalten. Sie werden immer wieder von der Stadt mit Giftfallen in Metallboxen bekämpft.
Ratte sorgte für Stromausfall – Kurzschluss in Wulfener 10 Kv-Station
Hunderte Menschen in Alt-Wulfen hatten an eines abends im Dezember 2017 keinen Strom. Betroffen waren Haushalte südlich der B 58. Eine Ratte verursachte in einer 10 Kv-Station zwischen Wulfen und Lembeck für einen Kurzschluss und brachte damit weitere 10 Kv-Stationen zum Abschalten. Sofort rückten mehrere Teams der Westnetz GmbH an und behoben den Fehler. Kurze Zeit darauf war der Strom wieder da. Eine Ratte sorgte Mitte Dezember 2018 für einen Kurzschluss samt Schwelbrand im Marler Rathaus – mit Folgen. Das Rathaus blieb zwei Tage lang geschlossen Das Tier war im Keller des Rathauses in einen Stromkasten geklettert und hatte einen Kabelbaum angenagt.
2021 lebten in einer Barkenberger Wohnung 500 Ratten
Im Jahr 2019 schaffte sich eine Familie in Wulfen-Barkenberg zwei Farbratten (Foto) als Haustiere an. Nicht ungewöhnlich. Dich innerhalb von zwei Jahren vermehrten sich die beiden Haustiere so, dass der Tierschutz im November 2021 rund 500 Ratten aus der Wohnung holen musste. Die Besitzer der Tiere hatten sich zuvor an das Dorstener Tierheim gewandt und um Hilfe gebeten. Selbst den erfahrenen Tierrettern der Organisation „Notfallratten Rhein-Ruhr“ fehlten die Worte, als sie die Wohnung in Barkenberg betraten, in der Menschen gemeinsam mit mehr als 500 Ratten lebten, darunter etwa 300 erwachsene Tiere. Fast alle Weibchen waren tragend oder hätten gerade frisch geworfen. Bei den Tieren handelte es sich um Farbratten, die in jeder Zoohandlung erhältlich sind. Sie gelten als sehr intelligente Tiere und werden auch schnell zutraulich. Offensichtlich handelt es sich um einen Fall von Animal Hoarding, („Tierhorten“), was mit normaler Tierhaltung nichts mehr zu tun hat. Die Tiere waren in gutem Zustand und gepflegt gewesen. Auch über die „Dorstener Zeitung“ wurden Pflegestellen und Adoptanten für die Tiere gesucht. Denn das Dorstener Tierheim konnte von den 500 Ratten nur 21 aufnehmen. Um den Rest und die deutschlandweite Verteilung der Tiere kümmerte sich die Tierschutz-Organisation „Notfallratten Rhein-Ruhr“.
Kreis Recklinghausen prüft den Fall, ob er geahndet werden kann
Das Veterinäramt des Kreises Recklinghausen untersucht den Fall und prüft mögliche Konsequenzen. Denkbar sei ein Bußgeld oder ein Tierhaltungsverbot. Laut einer Auswertung des Deutschen Tierschutzbundes sind im Jahr 2020 bundesweit 59 Fälle von Animal Hoarding mit über 3600 betroffenen Tieren bekannt geworden. Der Tierschutzbund geht von einer hohen Dunkelziffer aus. Die am häufigsten von Anomal Hoarding betroffenen Tierarten sind Hunde, gefolgt von Katzen und kleinen Heimtieren, wie zum Beispiel Ratten oder Mäuse (Quelle: Robert Wojtasik in DZ vom 19. und 20. Nov. 2021; wir kommen auf den Fall zurück).