Das Pogrom von 9. auf den 10. November 1938 in Dorsten
Von Wolf Stegemann – In der Nacht vom 8. auf den 9. November 1938 brannten in Deutschland Synagogen, wurden jüdische Geschäfte zerstört und Juden ermordet. Das war die von den Nationalsozialisten gelenkte Reaktion auf die Ermordung des deutschen Botschaftsangehörigen vom Rath in Paris durch den polnischen Juden Herschel Grynszpan. Es kam nie zu einem Prozess gegen Herschel Grynszpan, denn die Nazis befürchteten, dass das Homosexuellen-Motiv des Mordes an vom Rath öffentlich bekannt werden würde. Als Grynszpan vom besiegten Frankreich an Deutschland ausgeliefert worden war, verbrachte er als „Sondergefangener“ den Krieg im Konzentrationslager Sachsenhausen. Er soll überlebt haben; seine Spur verliert sich in den Wirren der letzten Kriegsmonate. Durch den Mord war der Weg für die Juden vorgezeichnet. Im Volksmund hieß diese Nacht „Reichskristallnacht“, weil so viele Glasscherben der zerstörten jüdischen Geschäfte in den Straßen lagen. An den von den Nationalsozialisten aufgerufenen Gewalttaten waren neben der SS, SA und Hitlerjugend auch Teile der Bevölkerung, die Verwaltung, das Finanzamt, die Feuerwehr und Polizei aktiv beteiligt. Auch in Dorsten.
Die Nacht in Dorsten
Am Spätnachmittag des 9. November 1938, als es schon dunkelte, drangen uniformierte und zivilgekleidete Menschen in Uniform mit Brandfackeln in der Hand in das jüdische Gemeindehaus an der Wiesenstraße ein, in dessen oberen Etage sich der Gebetsraum befand. Friedhelm Potthoff, als Junge war er Augenzeuge vom Nebenhaus, erkannte unter der johlenden Menge viele Dorstener, darunter Jugendliche in HJ- und BDM-Uniform. Angeführt wurde der Haufen von SS-Männern. Etwa 25 von ihnen drangen in das Haus ein, andere standen an der Rückseite der Synagoge. Sie grölten und pfiffen.
Schriftrollen und Gebetbücher flogen aus dem Fenster
Die Randalierer stürmten die Treppe hoch. Da sie das Haus wegen der engen Bebauung in dieser Straße nicht in Brand setzen konnten, zerstörten sie den Gebetsraum und warfen die sakralen Gegenstände wie Tora, Leuchter, Schriftrollen und Gebetsschals aus dem Fenster, schleppten sie unter johlenden Rufen zum Marktplatz und verbrannten sie direkt vor dem Alten Rathaus. 1983 brachte die Forschungsgruppe Dorsten unterm Hakenkreuz am Alten Rathaus eine Gedenktafel an, die Jahre später von der Stadtverwaltung wieder abgenommen und eingelagert worden war. Erst durch Protest aus der Bürgerschaft wurde ein neuer Platz an einem Haus an der Wiesenstraße gefunden, da die alte Stelle an der Seitenwand des Alten Rathauses zwischenzeitlich durch eine Informationstafel (Geschichtsstation) über die Geschichte von Rathaus und Markt belegt war (siehe jüdische Gedenktafel).
Juden wurden zu Tausenden misshandelt, es gab auch Tote
In der Essener Straße und in der Lippestraße wurden die Fenster der jüdischen Geschäfte Perlstein eingeschlagen und Juden der Landgemeinden verhaftet, was offiziell „Schutzhaft“ hieß. Aus dem Gefängnis kamen sie erst wieder frei, nachdem sie sich bereit erklärten, ihr Geschäft zu „verkaufen“ („Arisierung“) und das Land zu verlassen. Die junge Frau Adele Moises aus Wulfen wurde von SA-Männern halbnackt aus dem Dorf gepeitscht. Sie suchte Schutz bei der Polizei. In dieser Nacht wurden reichsweit 259 Synagogen angezündet und mehrere hundert zerstört. Es gab 91 Tote. Juden wurden zu Tausenden misshandelt und teils schwer verletzt. Die deutschen Juden hatten danach weit über eine Milliarde Reichsmark als „Wiedergutmachung“ des durch die Zerstörungen verursachen „Schadens am Volksvermögen“ an die Reichskasse abzuführen. Auch wurden Glasschaden-Versicherungszahlungen (vor allem Allianz-Versicherung) nicht an die geschädigten Juden, sondern an das Reich gezahlt.
Kommentar von Hans Mommsen:
Reichskristallnacht war der Testfall für physische Ausschaltung
Die „Reichskristallnacht“ war für die Nazis der Testfall, wie weit sie bei der Bevölkerung gehen konnte, die Juden nach der gesellschaftlich-sozialen Absonderung auch physisch auszuschalten.
Während die „Reichskristallnacht“ weithin auf öffentliche Ablehnung gestoßen war, und zwar nicht wegen der antisemitischen Stoßrichtung, sondern wegen der Durchbrechung der öffentlichen Ordnung, vollzogen sich die anschließenden Schritte der Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben und ihre vollständige soziale Absonderung, ohne dass nennenswerter Widerstand oder Proteste geltend gemacht wurde. Die NS-Satrapen, denen Himmler die grauenvolle Wahrheit enthüllte, waren wenig geneigt, davon mehr als das Nötigste weiterzugeben.
Der Gesamtzusammenhang der Ermordung von mehr als viereinhalb Millionen europäischer Juden blieb daher den Zeitgenossen verborgen. Einzelheiten des Geheimnisses waren hingegen in ihren vielfältigen Facetten vermutlich der Mehrheit der erwachsenen Deutschen in dieser oder jener Form vertraut. Die Größe des Verbrechens und dessen moralische Dimension machten es unbegreiflich. Das gilt auch für die ausländische öffentliche Meinung und die alliierten Regierungen, die zögerten, die ihnen zukommenden Informationen vollständig zu rezipieren. Dabei gehörte nicht viel dazu, das Schicksal der deportierten Juden zu ermessen.
Diejenigen, die sich einmal dazu durchgerungen hatten, den fundamentalen Unrechtscharakter des NS-Herrschaftsregimes innerlich zu akzeptieren, erfuhren genug, um sich in dieser Beziehung zu vergewissern. Aber das war eine kleine Minderheit. Die große Mehrheit fügte sich in die vom Regime feilgebotene kollektive Verantwortung.
Quellen/Literatur:
Wolf Stegemann/Dirk Hartwich: „Dorsten unterm Hakenkreuz. Die jüdische Gemeinde“, 1983. – Wolf Stegemann/Johanna Eichmann: „Juden in Dorsten und in der Herrlichkeit Lembeck“, 1989. – Wolfgang Benz (Hg.) „Legenden, Lügen, Vorurteile“, 1992.