Vom Streit mit Nachbarn über Beziehungsstress bis hin zu Suizid-Gedanken
Die Telefonseelsorge, die von der evangelischen und katholischen Kirche getragen wird, ist ein Netzwerk mit 104 Stellen in Deutschland. Hier arbeiten fast 300 festangestellte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie rund 7500 ausgebildete Ehrenamtliche mit ganz unterschiedlichen Lebens- und Berufskompetenzen. Als einzige Einrichtung in Deutschland bietet sie Tag und Nacht ein telefonisches Gesprächsangebot für Menschen in Krisen an. So ist auch die Telefonseelsorge für Dorstener in Recklinghausen unter Leitung von Pfarrerin Gunhild Vestner eine Einrichtung der evangelischen und katholischen Kirche. Sie ist zuständig für 600.000 Bürgerinnen und Bürger im Kreis Recklinghausen. Die Beratungsarbeit am Telefon wird von über 70 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geleistet. Die Aus- und Weiterbildung der ehrenamtlichen Beraterinnen und Berater wird geleistet von der Leitung und zurzeit von acht Supervisorinnen und Therapeuten (Stand: 2020).
Anruf-Statistik Recklinghausen: Über 16.000 Anrufe im Jahr
In einem Jahr rufen 932.100 Menschen in Deutschland bei der Telefonseelsorge an und sprechen mit den Mitarbeitern. 2020 haben über 12.500 Frauen und Männer in Recklinghausen angerufen. Die Telefone sind rund um die Uhr – 24 Stunden, sieben Tage die Woche – zu erreichen. Telefonseelsorge ist aber mehr als Telefonieren. Allein im Jahr 2019 wurden 34.795 Mails geschrieben, 19.540 Konversationen in Chats geführt. In manchen Städten des Kreises werden auch Vorort-Gespräche geführt. Die meisten Anrufer wollen sich vor allem durch das Gespräch entlasten (55 %). Viele suchen Unterstützung bei der Klärung von Problemen (11 Prozent). Immer mehr Anruferinnen und Anrufer leiden unter einem Alltag, der sie überfordert. Sie suchen bei der Telefonseelsorge Begleitung und Orientierung für ihren Alltag (27 Prozent). Zwei bis dreimal am Tag suchen Anrufer Hilfe, weil sie in einer akuten Krise stecken. Dabei geht es auch um konkrete Suizidabsichten. Bei jedem vierten Anruf kam kein Gespräch zustande; manchmal brauchte ein Anrufer mehrere Anläufe bevor er den Mut fand, das Gespräch zu beginnen. Häufig wurden die Telefonseelsorgerinnen und Telefonseelsorger lediglich provoziert oder die Anrufer suchten sexuelle Stimulierung. 11 Prozent der Anrufe entsprachen nicht dem Auftrag der Telefonseelsorge. Viele Anruferinnen und Anrufer setzten sich mit Beziehungskonflikten auseinander: Partnerschaftsfragen (13 %), Konflikte in der Familie (17 Prozent); Stress mit Freunden und Nachbarn (10 Prozent); Krankheit und Einsamkeit war Thema in vielen Gesprächen: Psychische Erkrankungen (30 Prozent), depressive Stimmungen (19 Prozent), Ängste (11 Prozent), Leiden unter Einsamkeit (15 Prozent), 786 Suizid-Gespräche (8 Prozent).
Corona-Pandemie 2020: Selbstmordgedanken und Einsamkeit
Die Telefonseelsorge hat ihre Schichten 2020 ausgeweitet, um die erhöhte Nachfrage bewältigen zu können. Was die Anrufer und Chat-Nutzer wegen Corona bewegt, istalarmierend. Die Telefonseelsorge Recklinghausen hat für die Monate April bis Juni eine deutliche Steigerung der Nachfrage erfasst. Auffällig vor allem: Gespräche kreisten immer häufiger um das Thema Selbstmord. In konkreten Zahlen zeigt sich der Unterschied so: 3000 Anrufe zählte die Telefonseelsorge von April bis Juni. Im Vorjahr waren es in dem Zeitraum 2200. Hinzu kommt das erhöhte Chat-Aufkommen. Waren es vor Corona noch im Schnitt 90 Chats, die die Telefonseelsorge Recklinghausen monatlich zählte, sind es nun im Schnitt 200 im Monat. Vor allem psychisch Erkrankte Kontaktierten häufiger die Telefonseelsorger. Zu Beginn des Lockdowns im April beschäftigte das Thema Selbsttötung weniger Menschen als üblich. In den ersten Wochen waren es nur 20 Prozent der Gespräche, 10 Prozent weniger als vor dem Lockdown. Doch mit der Zeit stiegen die Prozente deutlich an – auf 36 Prozent in Juni 2020.
In Deutschland gibt es seit 1956 Telefonseelsorge
Drei Jahre nach der ersten Telefonseelsorge in London gründete sich in Deutschland 1956 die Telefonseelsorge Berlin, es folgten Kassel und Frankfurt am Main 1957. In Deutschland haben sich zwei Dachverbände der beiden Konfessionen entwickelt: die evangelische und die katholische „Konferenz für Telefonseelsorge und Offene Tür“, die in der gemeinsamen evangelisch-katholischen Kommission die Zusammenarbeit der 105 deutschen (davon 66 ökumenischen) Telefonseelsorge-Stellen organisieren. Nach Angaben der Evangelischen Konferenz für Telefonseelsorge in Berlin nutzten im Jahr 2009 rund zwei Millionen Anrufer und Anruferinnen die Telefonseelsorge in Deutschland. Als Medium der Telefonseelsorge gibt es seit 1984 die Fachzeitschrift „Auf Draht“. Die 18-monatige Ausbildung zur ehrenamtlichen Telefonseelsorgerin findet in den Stellen vor Ort entsprechend den Rahmenrichtlinien der Dachverbände statt. Vor der Ausbildung wird ein Auswahlverfahren durchgeführt, das Einzelgespräche und Gruppenverfahren enthalten kann.
Einsamkeit war 2023 oft Thema am Telefon der 1,2 Millionen Anrufer
Im Jahr 2023 haben sich erneut mehr als 1,2 Millionen Menschen mit ihren Sorgen, Nöten und Ängsten an die Telefonseelsorge gewandt. Der Krieg im Nahen Osten und in der Ukraine, Einsamkeit und depressive Stimmungen waren häufig Auslöser der Anrufe. Mehr als ein Viertel der Anrufe – etwa 27 Prozent – entfallen auf Nordrhein-Westfalen. Neben Anrufen ist ein ebenfalls anonymer Kontakt im Chat oder per Mail möglich. In den vergangenen Jahren gab es jeweils deutlich mehr als 30.000 Chats und wurden weit über 41.000 Mails ausgetauscht. Bei der Telefonseelsorge arbeiten bundesweit über 7700 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Am Telefon rangiert das Thema Einsamkeit nach wie vor an erster Stelle, sei bei mehr als jedem fünften Anrufenden Grund des Gesprächs gewesen. Sehr häufig werde über Ängste und depressive Stimmungen gesprochen. Auch Suizidgedanken kommen zur Sprache.
So ist die Telefonseelsorge zu erreichen:
– Tel. 0800 / 111 0 111
– Tel. 0800 / 111 0 222
– Tel. 116 123
– sowie unter https://
online.telefonseelsorge.de und https://www.telefonseelsorge.de/vor-ort/
Siehe auch: Telefonseelsorge (II)
Quellen: Website Telefonseelsorge Recklinghausen. – Wikipedia (Aufruf „Telefonseelsorge“, 2017). – Lydia Heuser in DV vom 17. Juli 2020.