Müller, Gerfried

Unterwegs mit der Freundin, erschoss er im Wald einen Fotografen

Geboren 1947 in Dorsten; Abiturient. – Der Fall des Dorstener Millionärssohns, der in einer Waldlichtung im Jagdrevier seines Vaters in Gahlen-Besten einen Bottroper Fotografen erschoss, machte 1966 und 1967 bundesweit Schlagzeilen. Die Staatsanwaltschaft klagte Gerfried Müller an, „vorsätzlichen einen Menschen getötet zu haben, ohne Mörder zu sein“, plädierte auf drei Jahre Gefängnis, während der Verteidiger meinte, sein Mandant sei von Panik erfasst worden und habe in Notwehr gehandelt. Das Landgericht Essen verurteilte den Abiturienten Gerfried Müller am 25. Juli 1967 zu zwei Jahren Gefängnis.

Fotos und Berichte aus der WAZ Essen vom Juli 1967

Fotos und Berichte aus der WAZ Essen vom Juli 1967

„Hände hoch“ gerufen und geschossen

Gerfried Müller stammt aus der Familie Müller, denen die Westfälischen Ton- und Sandwerke (heute Euroquarz) gehören. Am Nachmittag des 17. Mai 1966 ging der 19-jährige Abiturient des Gymnasium Petrinum mit seiner Freundin, der 17-jährigen Oberschülerin Annette K., im väterlichen Jagdrevier spazieren. Er hatte nicht nur seine Freundin dabei, sondern auch eine Pistole, deren Tragen ihm aufgrund des Jugendjagdscheins erlaubt war. Als seine Freundin ihn fragte, warum er sie dabei habe, antwortete er „für den Fall eines Falles“. Wenig später saßen die beiden im Wald am Rand eines Bombentrichters, als der „Fall des Falles“ eintrat. Sie hörten ein Knacken und Rascheln im Gebüsch. Gerfried Müller sah in 80 Metern Entfernung einen Mann und ging zu ihm hin. Als er 15 Meter vor dem Mann stand, wollte er bei ihm ein Gewehr gesehen haben, das aber die Polizei nirgendwo auffinden konnte. Der Mann hatte lediglich eine Kamera und ein Teleobjektiv bei sich. Sein Hobby waren Tieraufnahmen. In der Verhandlung schilderte Gerfried Müller den weiteren Verlauf: „Dann drehte sich der Mann um. Ich rief ,Hände hoch oder ich schieße’. […] Ich gab einen Warnschuss ab. Da kam er langsam auf mich zu. Schob die Hände in die Jackentasche. Und dann habe ich losgeschossen.“ Auf die Vorhaltungen des Richters, dass er jetzt hätte sehen müsse, dass der Fotograf kein Gewehr hatte, antwortete der Angeklagte: „Für mich war der Mann gefährlich!“ Die folgenden Schüssen trafen den harmlosen Bergmann im rechten Fuß, im linken Oberschenkel, in der Leiste und im Bauch.

Unausgeglichener und reizbarer Junge

Das Gymnasium Petrinum und die Schule in Bottrop bescheinigte ihrem Schüler aus gutem Hause Wohlerzogenheit, Hilfsbereitschaft, Bescheidenheit und mit einem stark entwickelten Rechtsempfinden ausgestattet, charakterisierten ihn aber auch als „nervös und verkrampft wirkenden Typ“. Der psychiatrische Gutachter erweiterte die Darstellung: Der Angeklagte sei ein unausgeglichener, reizbarer Mensch, der alltäglichen Situationen noch gewachsen sei, bei größeren Belastungen jedoch impulsiv und aggressiv werde und sein Verhalten nicht sinnvoll zu steuern vermag.

Lokaltermin im Wald – Szene wirkte wie eine Exekution

Am nächsten Tag versammelte sich das Gericht unter Vorsitz von Landgerichtsdirektor Neifer am Tatort in der 50 Quadratmeter großen Lichtung im Wald bei Kirchhellen. Ein Polizist spielte die Rolle des Opfers und Gerfried Müller zeigte, wie er das Opfer erschoss. Die WAZ titelte: „Die Szene auf der Lichtung wirkte wie eine Exekution“. Seine Einlassungen riefen mitunter kritische Fragen hervor, da offensichtlich war, dass der Angeklagte alle Bewegungen des Opfers als Angriff deutete und versuchte, jede Bewegung als eine Rechtfertigung für seine Notwehr-Theorie zu machen. Zeugen meldeten sich, die angaben, das Opfer Kochmann hätte auch Liebespaare belauscht und der Jagdaufseher seines Vaters sagte aus, dass er den Fotografen schon mehrmals des Waldes verwiesen habe. Aufbrausend reagierte Gerfried Müller auf die Aussage des Polizisten, der als Zeuge dabei war, als der bereits vom Tode gezeichnete Theodor Kochmann vor dem Abtransport ins Krankenhaus zu Gerfried Müller sagte: „Junge, komm mal her. Wie konntest du so was nur machen? Ich hab doch gar nichts getan.“ Der Angeklagte bestritt diesen Vorfall mit „bleichem Gesicht“. Der Richter vereidigte den Polizeiobermeister unter freiem Himmel.

Staatsanwalt: ohne Vorsatz; Verteidiger: Tatbestandsirrtum

In den mehrstündigen Schlussplädoyers am 21. Juli 1967 kam Staatsanwalt Schlanstein zu dem Schluss, dass Müller nicht mit Vorsatz getötet habe, vielmehr aus Panik und Angst heraus die Schüsse abfeuerte. Er forderte wegen Totschlags drei Jahre Jugendstrafe. Die Nebenklägerin der Witwe des getöteten Bottropers betonte, dass selbst die höchste Strafe der Frau den Mann und den Kindern den Vater nicht zurückgeben könnte. Verteidiger Dr. Rösten aus Düsseldorf bescheinigte seinem Mandanten Tatbestandsirrtum. Er sei durchgedreht, ihn habe Panik erfasst, als sich Kochmann so unheimlich im Wald verhalten habe. Er beantragte Freispruch. Der WAZ-Gerichtsreporter schrieb, dass Gerfried Müller zum ersten Mal erschüttert war, als er zum Schlusswort aufgefordert wurde, und leise sagte: „Strafrechtlich fühle ich mich nicht schuldig.“

Letztlich wegen Totschlags verurteilt

Das Gericht sprach am 25. Juli 1967 den Angeklagtes des Totschlags für schuldig und verurteilte ihn zu zwei Jahren Jugendstrafe. In der 30-minütigen Urteilsbegründung folgten die Richter zwar weitgehend der Darstellung des Angeklagten, hielten aber dessen Einlassungen bezüglich der angeblichen Bewaffnung des Opfers für unglaubhaft: „Hier hat der Angeklagte bewusst oder gezielt die Unwahrheit gesagt.“ Das Gericht unterstellte Gerfried Müller keine Tötungsabsicht: „Aber er handelte mit bedingtem Vorsatz.“ Somit waren die Grenzen der Notwehr von Gerfried Müller überschritten worden. In der Urteilsbegründung gab es auch Kritik an den Behörden, die heranwachsenden jugendlichen Jägern den Erwerb von Pistolen gestatteten. „Nach den Erfahrungen dieses Gerichts ist die Pistole ein gefährliches Machtmittel, deren Handhabung über das Verantwortungsvermögen eines unfertigen Menschen hinausgeht.“ Gerfried Müller hatte als 16-Jähriger den Jugend-Jagdschein erworben.


Quellen:
Dank für die kollegiale Unterstützung an das Archiv der WAZ in Essen. – Meldung Deutsche Presseagentur vom 19. Juli 1967. – Hamburger Abendblatt vom 20. Juli 1967 „Der Wilderer war nur ein harmloser Fotograf. Wegen Totschlags vor Gericht“. – Heinz-Arndt Brüggemann „Millionärssohn: Für mich war der Mann gefährlich“ in WAZ vom 20. Juli 1967. – Ders. „Die  Szene auf der Lichtung wirkte wie eine Exekution“ in WAZ vom 21. Juli 1967. – Clemens Michelt „Todesschütze war beim Schlusswort erschüttert“ in WAZ vom 22. Juli 1967. – „Zwei Jahre Gefängnisstrafe für Todesschuss“ in „Hamburger Abendblatt“ vom 26. Juli 1967. – „Richter: Millionärssohn des Totschlags schuldig“ in WAZ vom 26. Juli 1967.

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