Als der Fluss noch grau und brauntrüb war – ein literarischer Text
Eines schönen Sommertags, kurz nach der Erschaffung der Welt, so wird erzählt, saß der germanische Göttervater Odin, auch Wotan genannt, auf dem Hohlen Stein bei Kohlstädt und schaute sich an, was getan war. Er blickte in die weite Ebene der Senne, damals eine Sandwüste ohne Baum und Strauch und ohne Wasser. Hier müssten Menschen leben, dachte er. Aber die Öde würde ihnen keine Nahrung geben. Das soll ihn so tief bekümmert haben, dass er eines seiner Augen nahm und in weitem Schwung hinaus in die Sandwüste warf. Und siehe da, wo das Auge niederfiel, sprudelte plötzlich eine Quelle, tiefblau wie das Auge des Göttervaters.
Bad Lippspringe: Stadt der Quellen
So soll, der Sage nach, die Quelle der Lippe entstanden sein, die der Volksmund noch immer „Odinsauge“ nennt. In der Mitte des Lippequellteichs kann man die dunkelblau schimmernde Stelle deutlich erkennen. Aus einem unterirdischen Felsspalt tritt mit Macht das Wasser hervor, zwischen fünfzig und siebzig Kubikmeter je Minute. Die Lippe gilt als die am stärksten schüttende Quelle der Bundesrepublik […] Vorbei am Kongresshaus und zwischen den alten Trinkhallen hindurch nimmt die Lippe allmählich ihren Lauf. In vielen Windungen, so als ob sie es gar nicht eilig habe, verlässt sie die „Stadt der Quellen”, wie sich Bad Lippspringe nennt. Dort nennt man die Lippe auch den „Jordan“, weil in seinem Wasser Karl der Große im Jahr 776 die historische „Sachsentaufe” vornahm. Hier, an den Lippequellen, hatten die Sachsen sich Karl unterworfen, der den Frieden unter der Bedingung annahm, dass sie sich taufen ließen.
Pader und Alme münden bei Paderborn in die Lippe
In Mäander verzweigt, fließt die Lippe sodann der Paderborner Hochfläche zu. Wiesen, Weiden und Getreidefelder wechseln einander ab. Industrie existiert kaum. Lediglich Kiesbagger und Kalkwerke tauchen gelegentlich auf. In Schloss Neuhaus, kurz hinter Paderborn, münden zwei weitere Nebenflüsse: Pader und Alme. Die Pader ist mit vier Kilometern der kürzeste Fluss der Bundesrepublik und entspringt mitten in Paderborn. Die alte Bischofsstadt hat über 200 Quellen in ihrem Stadtgebiet. Die Quellbezirke von Pader und Lippe zählen zu den größten Wasserspeichern Europas. Von weiter her kommt die Alme. Sie entspringt in dem nach ihr benannten Ort Alme in den Briloner Höhen.
Lippstadt ist nach Paderborn die zweite größere Stadt in der Region mit Industrie; allmählich verliert die Lippe ihre Unschuld, zunehmend muss sie Abwässer aufnehmen. Doch sieht hier das Wasser noch klar und sauber aus, schimmert der Grund dunkelgrün. Mitten in der Stadt dient die Lippe als Kanu-Rennstrecke, mit künstlich eingebauten Stromschnellen und an Seilen aufgehängten Slalomstangen. Noch einmal taucht sie dann in vielen Windungen in eine wenig berührte Landschaft, vorbei an zahlreichen Wasserschlössern und kleinen Dörfern am Südrand der Beckumer Berge, ehe sie das Ruhrgebiet erreicht und endgültig zum Industriefluss wird.
Den Kanal neben sich
Von Hamm an fließt die Lippe nicht mehr allein: Der Datteln-Hamm-Kanal, später Wesel-Datteln Kanal, verläuft bis zur Mündung unmittelbar neben ihr. Bei Bergkamen und Lünen passiert der Fluss die Kohlegebiete, die sich der Bergbau auf seiner Nordwanderung erschlossen hat. Insbesondere salzhaltige Grubenwässer belasten hier das Wasser. Dabei ist die Lippe schon mit Stickstoff und Chemikalien aus der landwirtschaftlichen Düngung befrachtet. Die Belastung kann man an der Ufervegetation ablesen: Statt Schilf und Auenwälder säumen nun Brennnessel und Strandastern die Ufer – Stickstoff verarbeitende beziehungsweise „Salz anzeigende“ Pflanzen. Bei Haltern ist die Lippe zwischen Deiche gefasst. Unter dem Flussbett wurde Kohle abgebaut, die Erde ist infolge der Bergsenkungen abgesackt. Bis zur Mündung fließt die Lippe danach durch den Naturpark Hohe Mark oder an seinem Rand entlang, vorbei an den Städten Marl und Dorsten. Die Landschaft mit ihren Mühlen und Wasserschlössern nimmt allmählich niederrheinische Züge an. Bis zur Mündungsstadt, der ehemaligen Hansestadt Wesel, ist es nun nicht mehr weit. Zwischen Ölhafen und städtischem Rhein-Lippe-Hafen mündet die Lippe, in einem schnurgeraden Bett müde vor sich hin dümpelnd, nach 226 Kilometern in den Rhein. Ihr Wasser, einst sprudelnd und tiefblau wie Odins Auge, ist grau, braun, trübe. Harmonisch mischt es sich mit den Fluten des Rheins.
Quelle:
Gekürzt nach Roland Kirbach „Die Lippe riskiert“ in „Die Zeit“ Nr. 46/89 vom 10. November 1989.