Ein Spaziergänger macht sich 2015 über den fast fertigen Bau Gedanken
Von Wolf Stegemann – Wer sehenden Auges an dem Bau des zukünftigen Einkaufszentrums „Mercaden“ zwischen Kanal und Stadtinnerem vorbeifährt oder davor steht, mag sich freuen, dass dort so etwas entsteht, was gerade entsteht. Dieser Tage war Richtfest. Dabei wurden vom offiziellen Dorsten Freude und großer Optimismus überschwänglich gezeigt. Wie das bei solchen Anlässen eben üblich ist. Doch wer dann mit wachem Interesse seine realistische Vorstellungskraft hernimmt, um nachzudenken, mag erschrecken. Denn es entsteht mit Zustimmung der Verwaltung und zuständigen Ratsgremien ein Riesen-Koloss, den selbst diese Gremien so nicht gewollt haben können, glaubt man ihren laut tönenden Beteuerungen zu Anfang dieses Bauvorhabens.
Dorsten – keine Stadt am Wasser
Der Kanal sollte eingebunden werden, hieß die Vorgabe, Dorsten am Wasser der Werbeslogan und Öffnung zum Wasser die Forderung. Diese wurden im Rathaus an den Bauherrn gestellt, weil man seit mindestens 2008 stets der Meinung war und diese in den Zeitungen veröffentlichte, dass das alte abzureißende Lippetor-Center wie ein Korken den Flaschenhals zum Kanal versperre. Dies könne den Bürgern bei einem neuen Bauwerk nicht mehr zugemutet werden. So sonnten sich die Lokalpolitiker in ihren beklatschten Ergüssen. Bürger sollten teilhaben am städtischen Slogan „Dorsten – Stadt am Wasser“.
Dem Spaziergänger vor dem entstehenden Koloss im September 2015 kommt in den Sinn, dass der frühere Korken, um im Bild zu bleiben, gemessen an dem jetzigen Ersatzkorken eigentlich recht klein und überschaubar war. Und jetzt? Ein massiver Festungsbau sperrt die Innenstadt wie ein Riegel ab. Durch die Mauerverkleidung mit dunklem Backsteinklinker wirkt die Festung uneinnehmbar. Aber wer will sie schon einnehmen?
Gutachten hin, Gutachten her
Der Spaziergänger schaut sich um. Kunden? Woher? Ach ja, fällt ihm ein, Gutachter haben ja dem Bauherrn und der Stadt bescheinigt, welche Kundenströme aus allen Richtungen am „Mercaden“ im nächsten Jahr zusammenkommen werden. Der Spaziergänger glaubt das nicht. Überhaupt sind Gutachten, das weiß inzwischen jeder, mit äußerster Vorsicht zu lesen. Ihm fällt schmunzelnd ein, was der Volksmund dazu sagen könnte: „Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing!“ Und dann erinnerte er sich, dass in einer Ratsvorlage zum „Mercaden“-Thema eine Gutachten-Passage verwendet wurde, deren Herkunft wohl nicht ganz koscher war.
Koscher war auch das Innenstadt-Verträglichgutachten nicht, das der Projektentwickler bestellt hatte. In Gutachten vornehmlich für die Bau-Branche wird ja häufig das geschrieben, was der Auftraggeber wünscht. Anderes wird weggelassen. Das ist in der Branche hinlänglich bekannt. Auch in Dorsten? Gutachter mit mehr oder weniger Wissenschaftlichkeit haben die Städte genannt, aus denen Kaufkraft für das Dorstener „Mercaden“-Projekt fließen werden. Doch solche Monster-Zentren wie das „Mercaden“ gibt es mittlerweile auch in Dorstens Umgebung. Beispielsweise in Recklinghausen. Von dort ist Kaufkraft für das Mercaden eingeplant. Recklinghausen hat aber mit dem kürzlich eröffneten „Palais Vest“ inzwischen selbst ein noch größeres Einkaufszentrum, für das Gutachter nun umgekehrt Kaufkraft aus Dorsten erwarten, wie auf der dortigen „Altstadtkonferenz“ 2013 berichtet wurde.
Leerstände werden mit dreidimensionale Fotos vertuscht
Zudem hat das „Palais Vest“ etliche Leerstände. Die Glasfronten sind fachmännisch täuschend mit dreidimensionalen Großfotos überklebt, als verberge sich ein Geschäft hinterm Glas. Eine holländische Druckerei ist darauf spezialisiert. Doch dem Palais gelang es, die Innenstadt einkaufsmäßig stillzulegen. Hin und wieder schlendert unser Spaziergänger durch die Etagen des „Palais Vest“. Wälzen sich dort die Kunden durch die Geschäfte? Er sah das nicht. Was ihm auffiel war, dass die wenigsten Kunden beim Verlassen des Palais irgendwelche Einkaufstüten dabei hatten. Vielleicht haben sie auch „nur“ wertvollen Schmuck und Diamanten für die Ehefrau oder Geliebte gekauft. Dafür brauchen sie keine Tüten von „Kaufland“, „Netto“ oder „Ernsting’s Family“. Ihm soll es gleich sein. In Borken, denkt er, siecht der einst so hoch gelobte „Vennehof“ an der Innenstadt dahin. Und wer über den einst lebendigen Marktplatz in Borken geht, sieht sofort, was der „Vennehof“ in der Innenstadt angerichtet hat. Vielleicht kommt dann der eine oder andere Kunde aus Borken zu „Mercaden“, um den Umsatz zu steigern? Abenteuerliche Gedanken sind das, denkt er und besinnt sich, dass er in Dorsten steht und den Koloss am Lippetor betrachtet.
Das Schweigen in der Innenstadt
Warum so groß? fragte er sich. Das „Mercaden“ war doch anfangs viel kleiner genehmigt, als noch von der Einbindung des Kanals die Rede war. Und da erinnert er sich an ein Gespräch mit einem, der im Rathaus arbeitet und ihm die Antwort darauf gegeben hat: Der Projektplaner habe die Stadt unter Druck gesetzt. Entweder läuft es so, wie ich will oder gar nicht! So ist das in der Wirtschaft und Politik, denkt der Spaziergänger. Der Bürger kommt da nicht vor! Ja, der Bürger. Warum ging oder geht er nicht auf die sprichwörtlichen Barrikaden, wenn er so verschaukelt wird? Vielleicht will er eingelullt werden und fühlt sich dabei am wohlsten? Schließlich konnte er in der einen Zeitung kaum kritische Anmerkungen zu Procedere des „Mercaden“-Projekts lesen und in der anderen gar keine. Und von den Einzelhändlern und von der Dorstener Interessengemeinschaft Altstadt kam auch nur Schweigen. Sie sagen lieber Ja zu Dorsten und somit zu „Mercaden“, auch wenn es noch so massiv dasteht, jede Maßstäblichkeit sprengt und wahrscheinlich unabsehbare Folgen für die Innenstadt haben wird.
Nicht an Autoabgasen ersticken
Zurück zu dem, was der Spaziergänger real vor Augen hat: den Platz vor „Mercaden“. Hier sollen also Tische mit bunten Schirmen zum Kaffeetrinken an freier Luft einladen, gleich neben der Straße, die zum Parkhaus führt und gleichzeitig Durchgangsstraße ist. Er hat noch das bunte Bild im Kopf, das er in der Zeitung abgebildet sah, einladend wie im Urlaub irgendwo unter südlicher Sonne. Ein Freiluft-Café? Oder nur Sitzgelegenheiten? War das auch so eine Verdummung der Öffentlichkeit, die sich jemand ausgedacht hatte, um dem Ganzen eine liebenswerte Seite abzugewinnen? Er zuckt mit den Schultern. Hier an einem Tisch im Freien, gleich neben der Straße Kaffee trinken? Nein! Nur das nicht!
Als alter Kaffeetrinker und Caféhaus-Sitzer kann er sich das nicht vorstellen. Er würde ja im Abgasdampf der stehenden Autos ersticken, die an der Brücke weiterfahren oder in den Westwall einbiegen wollen, dort im Rückstau zum Parkhaus stehen. Andere Autos kommen von der anderen Richtung. Und das alles vor seinem Kaffee-Tisch! Und es werden viele Autos sein, überschlägt der Spaziergänger im Kopf, die als Kaufkraft kommen müssen, um „Mercaden“ am Leben zu erhalten. Die genauen Zahlen stehen in den Gutachten. Und sollte nur die Hälfte kommen und damit den Verkehr einigermaßen fließend halten, dann würde die Kaufkraft für den notwendigen Umsatz der Geschäfte im „Mercaden“ nicht ausreichen. Eine Zwickmühle, denkt unser Spaziergänger. An den Autoabgasen ersticken will er keinesfalls. Das weiß er heute schon. Denn es reicht, wenn der gesamte Verkehr ersticken wird. Wenn das alles ab Frühjahr 2016 beginnt, möchte er nicht dabei sein.
Kirchturm nicht mehr im Mittelpunkt der Hütchen-Brücke
Unser Spaziergänger geht auf den gewundenen Wegen seitlich am Gebäude vorbei zur Hochstaden-Brücke, die so genannte Hütchen-Brücke, geht hinüber und dreht sich um. Wieder schießt es ihm durch den Kopf: „Was für ein Koloss!“ Er erinnert sich an die Einweihung dieser Hütchen-Brücke Anfang der 1980er-Jahre, als der Architekt Manfred Ludes sich niederkniete, nicht vor ihm, sondern vor der Brücke, hinüber sah und bemerkte, dass im Blick des Betrachters die Brücke den Agatha-Kirchturm nicht in der Mitte im Visier hat, sondern etwas daneben. Er beklagte das. Wie würde er sich heute aufregen, denn vom Agathaturm sieht man nichts mehr. Der Festungsbau „Mercaden“ hat die Stadt von Lippe und Kanal, vom Bildungszentrum Maria Lindenhof fest abgeriegelt. Aber wozu Bildung? In Abwandlung der Brecht’schen Aussage könnte man sagen: „Fressen und Konsum kommt vor der Bildung.“ Nebenbei gesagt: Was man von der Bierbörse so alles hört und liest, müsste noch das Saufen noch dazukommen.
Wo das Parken noch frei ist
Unser Betrachter und Denker dreht sich um und spaziert über den „Jordan“, der Holsterhausen von der Altstadt trennt, nach Holsterhausen. Hier ist die Welt noch in Ordnung, sagt er sich, auch wenn das nicht ganz stimmt. Keine Querelen und nichts Brachliegendes, das belebt werden muss wie in Hervest-Dorsten oder in der Altstadt. Der Verkehr fließt, die Nahversorgung stimmt und das Parken ist noch frei!
Siehe auch: Mercaden IV
Siehe auch: Mercaden: I
Siehe auch: Mercaden III
Quelle:
Entnommen und gekürzt aus „Dorsten-transparent“ vom 18. November 2015